Kann die EZB die Inflation noch unter Kontrolle bringen?

Quirin Privatbank: Die Europäische Zentralbank (EZB) geht bei ihren geldpolitischen Entscheidungen mittlerweile entschlossener vor.

Nachdem im Juli der Leitzins, zu dem sich die Geschäftsbanken Geld bei der EZB leihen können, erstmalig nach 11 Jahren von der Null-Linie auf 0,5% angehoben worden war, folgte letzte Woche die stärkste Anhebung seit der Einführung des Euros.

Der neue Leitzins liegt nun noch einmal 0,75 Prozentpunkte höher, also bei 1,25%.

 

 

Neben der Leitzinspolitik hat auch die EZB-Aktivität an den Anleihemärkten eine Auswirkung auf das allgemeine Zinsniveau, sprich auf die Renditen von Festverzinslichen.

In den letzten Jahren ist die EZB hier, ähnlich wie andere maßgebliche Notenbanken, in großem Stil als Käufer aufgetreten und hat die Anleiherenditen damit – im Zusammenspiel mit ihrer Nullzinspolitik – am Boden gehalten.

Hintergrund: Starke Nachfrage nach Zinspapieren versetzt Anleiheschuldner in die Lage, bei neu aufgelegten Papieren nicht so hohe Zinskupons bieten zu müssen, was auch das allgemeine Renditeniveau drückt.

In puncto Anleiheaufkäufe ergab sich im Zuge der jüngsten Zinssitzung allerdings nichts Neues. Die EZB bleibt also dabei, dass Beträge aus fällig werdenden Anleihen bis auf Weiteres wieder in Anleihen reinvestiert werden, so dass deren Bestand bei der EZB unangetastet bleibt.

Zwar hat die EZB schon im März bzw. Juli dieses Jahres ihre beiden großen Anleiheaufkaufprogramme beendet, aber sie legt eben seitdem zumindest fällige Gelder wieder an, damit den Märkten vorerst keine Liquidität entzogen wird und das Zinsniveau nicht zu schnell und zu stark ansteigt.

Zurück zur direkten Zinspolitik: Bei den Leitzinsen hat sich der Abstand zu den USA mit der jüngsten Anhebung wieder merklich verringert, zumindest bis zur nächsten dortigen Sitzung in der nächsten Woche.

Die US-Notenbank Fed war hier in den letzten Monaten schon schneller und stärker vorgeprescht. Auch was die Reduktion der aufgekauften Anleihebestände angeht, ist die Fed zügiger unterwegs als die EZB.

In den USA werden die Anleihebestände schon seit einigen Monaten zurückgefahren, allerdings peu à peu mit ruhiger Hand.

 

 

Was hat der jüngste EZB-Schritt an den Kapitalmärkten bewirkt?

Nun, im Großen und Ganzen reagierten sowohl die Aktien- als auch die Anleihemärkte in Anbetracht des doch recht deutlichen Zinsschritts ziemlich unaufgeregt. Dies deutet darauf hin, dass die Entscheidung im Vorfeld bereits erwartet und so letztlich schon eingepreist wurde.

An dieser Stelle hat die Kommunikation der EZB also durchaus gut funktioniert, denn unvorhergesehene Notenbankentscheidungen können schnell unerwünschte und empfindliche Marktturbulenzen auslösen.

Der nachfolgende Chart verdeutlicht die Kursentwicklungen der jüngeren Vergangenheit und zeigt nebenbei, dass sich auch in den letzten Jahren einmal mehr eine international breiter gestreute Investition (hier repräsentiert durch den MSCI World Index) bezahlter gemacht hätte als eine regional auf Deutschland oder die Euro-Zone fokussierte Anlage.

 

 

Erstaunlich ist die relative Ruhe nach dem letzten Zinsentscheid auch deshalb, weil Aktienmärkten für gewöhnlich eine nervöse Reaktion auf Zinsanhebungen zugeschrieben wird.

Das hängt damit zusammen, dass steigende Zinsen einerseits für mehr Anlagekonkurrenz sorgen (Neuanlagen im Anleihebereich werden attraktiver) und andererseits auch Kredite verteuern, was sich natürlich auch auf die Refinanzierung von Unternehmen und somit auf die Investitionsneigung niederschlägt.

Insofern könnte man durchaus mutmaßen, dass die Aktienmarktschwäche der letzten Wochen schon auf die erwartete und dann auch tatsächlich eingetroffene Zinsstraffung zurückzuführen war.

Ob und, wenn ja, wie stark die EZB-Aktivität hier eine Rolle spielte, bleibt aber letztlich Spekulation und sollte ohnehin keine Grundlage von anlagestrategischen Überlegungen sein.

Die Gründe für Aktienmarktbewegungen sind schließlich mannigfaltig und überlagern sich zeitlich wie inhaltlich – Prognosen über kurzfristige Kursverläufe werden damit zu einer schlichten Wette und erscheinen immer erst im Nachhinein plausibel, was sie im Vorhinein nie waren.

Festzuhalten bleibt aber, dass der jüngste Zinsschritt zumindest keine neue Abwärtsdynamik an den in diesem Jahr ja durchaus schon geplagten Aktienmärkten verursacht hat. In den letzten Monaten hat sich somit – trotz anhaltend kritischer Nachrichtenlage – eine gewisse Stabilisierung auf niedrigem Niveau ergeben.

Auch an den Anleihemärkten war der Zinsschritt offenbar bereits eingepreist. So weiteten sich z. B. die Renditen für Bundesanleihen in den letzten Tagen trotz des markanten Zinsschritts kaum mehr weiter aus.

Die Aussicht auf die EZB-Maßnahme hatte hier also offenbar schon in den letzten Wochen für sukzessive steigende Renditen – und im Umkehrschluss fallende Anleihekurse – gesorgt, ohne dass dabei im langfristigen Laufzeitbereich die jüngsten Höchstmarken aus dem Juni übertroffen wurden.

 

 

Hilft der aktuelle Zinsschritt denn nun gegen die aktuelle Inflation?

Der Zinsschritt war also unmittelbar nach seiner Bekanntgabe für die Märkte fast schon ein „Non-Event“.

Viel wichtiger als die kurzfristige Auswirkung auf die Kapitalmärkte ist allerdings die Frage nach der Auswirkung auf die Inflation.

Zielt doch der Zinsschritt genau darauf ab, die Preisentwicklung im Zaum zu halten bzw. mittelfristig wieder spürbar zu dämpfen.

 

 

An dieser Stelle möchten wir ausdrücklich noch einmal darauf hinweisen, dass die EZB keine Möglichkeit hat, auf die Inflationsentwicklung kurzfristig einzuwirken, denn sämtliche geldpolitischen Maßnahmen entfalten ihre Schlagkraft frühestens nach einem Jahr.

Dazu kommt, dass die derzeitigen Preissteigerungen nicht durch eine überschießende Nachfrage ausgelöst wurden, sondern durch eine Angebotsverknappung, speziell bei den Energie- und Agrarrohstoffen. Dies hat seine Ursache in der anhaltenden und sich nur langsam entspannenden Lieferkettenproblematik, vor allem im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine.

Wenn aber die Ursache von Preissteigerungen solche „exogenen Angebotsschocks“ sind, dann sind die Möglichkeiten einer Notenbank, dagegen anzukämpfen, sehr eingeschränkt.

Im aktuellen Fall entziehen sich die Rohstoffpreis- und Lieferkettenentwicklungen schlicht und logischerweise dem Einflussbereich der Notenbanken. Eine noch so starke Zinsanhebung kann z. B. den Knoten bei den Rohstofflieferungen schließlich nicht lösen.

Eine straffere Zinspolitik zur Inflationsbekämpfung setzt dagegen in erster Linie auf der Nachfrageseite an.

Steigende Zinsen verteuern – wie bereits erwähnt – die Kreditkosten und dämpfen auf diese Weise eine eventuell überschießende und somit preistreibende Nachfrage, sowohl bei Unternehmensinvestitionen als auch beim privaten Konsum. Davon sind wir derzeit aber weit entfernt.

Im Gegenteil – derzeit mehren sich vielmehr die Anzeichen einer bevorstehenden Rezession oder zumindest einer temporär stagnierenden Wirtschaft, verursacht unter anderem von einer spürbaren Nachfragedelle.

Dies gilt es übrigens für die EZB auch bei ihren nächsten Schritten im Hinterkopf zu behalten.

Eine allzu forsche Zinspolitik könnte die ohnehin schwächelnde Wirtschaft ungewollt zusätzlich belasten.

 

 

Aktuelle Inflation versus Inflationserwartungen

Vor diesem Hintergrund stellt sich aber die naheliegende Frage, warum die EZB denn überhaupt an der Zinsschraube dreht, wenn dies bei einer angebotsgetriebenen Inflation doch gar nicht so wirksam ist. Das liegt daran, dass die EZB trotz der beschriebenen Umstände zum Glück nicht völlig machtlos ist. Auf die kurzfristige Inflationstendenz hat sie derzeit zwar tatsächlich kaum Einfluss.

Worauf sie aber sehr wohl Einfluss hat, sind die allgemeinen Inflationserwartungen, die wiederum eng mit der mittel- bis langfristigen Inflationsentwicklung zusammenhängen. Und diese Größen und der Einfluss der EZB hierauf sind letztlich viel wichtiger als eine kurzfristige Bremsung der Inflation, wobei dies der Schmerzhaftigkeit der aktuellen Preisentwicklung natürlich keinen Abbruch tut.

Der entscheidende Punkt: Die EZB kann (und muss!) verhindern, dass sich die breite Öffentlichkeit an hohe Inflationszahlen gewöhnt und sie in der Folge in sämtliche Kalkulationen und Entscheidungen einfließen lässt. Denn das würde die Gefahr bergen, dass sich hohe Preise in einer Art selbsterfüllenden Prophezeiung auch in der Zukunft verfestigen.

Ein Beispiel für solche Entscheidungen im Rahmen von aus dem Ruder laufenden Inflationserwartungen sind exorbitante Lohnforderungen, die in einer gefürchteten Lohn-Preis-Spirale münden können, oder auch preistreibende „Hamsterkäufe“. Auch vorauseilende Preiserhöhungen in besonders betroffenen Gewerbezweigen, wie der Gastronomie, können hier als Beispiel herhalten.

Inflationsbekämpfung heißt also – aktuell, aber auch grundsätzlich – in erster Linie Verankerung der mittel- und langfristigen Inflationserwartungen um den Inflations-Zielwert für Preisniveaustabilität von 2%. Und dazu können angemessene geldpolitische Maßnahmen inklusive stringenter Kommunikation enorm beitragen.

Sie schaffen nämlich das Vertrauen der breiten Öffentlichkeit, dass die Notenbank willens und in der Lage ist, anhaltend hohe Preissteigerungstendenzen – nicht die aufgrund von Angebotsschocks kurzfristig hochschnellende Inflation – erfolgreich umzukehren.

 

 

Wie ist es nun aktuell um besagte Inflationserwartungen bestellt?

Eine Antwort lässt sich unter anderem aus Marktpreisen von passenden Finanzinstrumenten herauslesen, z. B. aus der Gegenüberstellung von Renditen herkömmlicher Bundesanleihen und ihren inflationsgeschützten Pendants.

Die nachfolgende Grafik zeigt die dementsprechenden Inflationserwartungen für verschiedene Zeiträume, die sich aus den Restlaufzeiten der am Markt verfügbaren inflationsindexierten Bundesanleihen ergeben. Die Inflationswerte sind dabei als Durchschnittswerte für die entsprechenden Zeiträume zu verstehen.

Interessant wird es vor allem dann, wenn wir nicht nur die aktuellen Inflationserwartungen (durchgezogene Linie) betrachten, sondern auch die noch vor kurzem vorherrschenden (gestrichelte Linie). Denn im Vorfeld der jüngsten Zinsentscheidung hatten die so gemessenen Inflationserwartungen durchaus spürbar angezogen.

Hätte sich dieser Trend fortgesetzt, wären wir unseres Erachtens durchaus in gefährliche Bereiche vorgestoßen. In den letzten Wochen haben sich die Erwartungen dann aber wieder deutlich normalisiert, was wir vor allem auch auf den beherzten Zinsschritt der EZB bzw. dessen glaubwürdige Ankündigung zurückführen.

Zudem ließ die EZB bei der Verkündung ihrer Entscheidung klar durchblicken, dass sie – falls nötig – auch kurzfristig zu weiteren Zinsschritten bereit ist – wir halten Leitzinsen von rund 2% zum Jahresende daher für durchaus denkbar.

Das Vertrauen in die Wirkkraft der Notenbankpolitik scheint von dieser Warte aus also weiter intakt zu sein.

 

 

Die Signale des Marktes stehen also in deutlichem Kontrast zu vielen Pressemeldungen, die den Eindruck erwecken, dass der Kampf gegen die hohe Inflation bereits verloren ist.

 

Fazit

Die EZB und die Notenbanken weltweit zeigen sich zunehmend entschlossener in der Inflationsbekämpfung bzw. der Dämpfung der mittelfristigen Inflationserwartungen. Auch in den USA sind weitere Zinsschritte wahrscheinlich, ggf. Richtung 3,5 bis 4%.

Die Aktienmärkte scheinen sich damit einigermaßen arrangiert zu haben, auch wenn es fraglos temporären Stress für sie bedeutet und u. U. auch für die ohnehin fragile Wirtschaft.

Die Inflationsbekämpfung hat derzeit aber auch aus unserer Sicht Vorrang, weil davongaloppierende Preise und erhöhte Inflationserwartungen die Wirtschaft langfristig massiver schädigen würden als der aktuell mögliche konjunkturelle Durchhänger.

Zudem sind wir zuversichtlich, dass die Notenbanken ihre Maßnahmen nicht völlig „wirtschaftsblind“ durchziehen. In den USA besitzt die Fed sogar das offizielle Mandat, neben der Inflation auch auf die Wirtschaft achtzugeben.

Und eins sollten wir bei allen Unwägbarkeiten ebenfalls nicht aus dem Auge verlieren: Die aktuelle Zinspolitik führt uns ein Stück weit zurück in eine (Anlage-)Welt mit Zinsen – und das wurde von vielen Investorinnen und Investoren schon sehr lange herbeigesehnt.

Aktien bleiben aber natürlich auch unter diesen Vorzeichen elementarer Bestandteil einer langfristigen Anlagestrategie.

 

Autor: Prof. Dr. Stefan May, Leiter Anlagestrategie und Produktentwicklung der Quirin Privatbank

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