Stühlerücken bei der EZB – brechen nun alle Dämme?

Quirin Privatbank: Vor etwa zwei Wochen hat Jens Weidmann verkündet, dass er zum Jahresende seine Position als Präsident der Deutschen Bundesbank und damit auch seinen Sitz im EZB-Rat aufgeben wird.

Gerade in der aktuellen Phase höherer Inflationsraten – im Oktober wird die Preissteigerung in Deutschland mit voraussichtlich 4,5 % so hoch liegen wie seit fast 30 Jahren nicht mehr – ist diese Nachricht in Deutschland mit einigem Unbehagen aufgenommen worden.

Denn in den etwa 10 Jahren, die Weidmann dieses Amt bekleidete, wurde er vor allem in Deutschland immer als dasjenige Mitglied im EZB-Rat gesehen, das im Angesicht einer immer expansiveren Geldpolitik die konservativere Position der Bundesbank vertreten und verteidigt hat.

 

 

Nicht wenige fürchten daher, dass mit einem Ausscheiden Weidmanns die EZB-Politik quasi automatisch noch stärker auf Anleihekäufe sowie Niedrig- bzw. Negativzins setzen könnte und somit die extrem günstigen Refinanzierungs- und Investitionsbedingungen gewissermaßen zementiert werden.

Dies, so die weiteren Befürchtungen, könnte die Inflation noch deutlich weiter anfachen, als es ohnehin schon der Fall ist, denn die EZB habe die verschärfte Inflationslage schon jetzt (vor allem mit Blick auf die hoch verschuldeten südeuropäischen Nationen) billigend in Kauf genommen und hätte längst mit einer Straffung der Geldpolitik reagieren müssen.

 

 

Ohne Weidmann im EZB-Rat rücke ein solcher, dringend nötiger Politik-Schwenk in noch weitere Ferne. So weit die Befürchtungen.

Bei aller Sorgfalt und Vorsicht, die generell und insbesondere aktuell – vor dem Hintergrund der relativ dynamischen Inflationsentwicklung – in Sachen Geldpolitik walten sollte, halten wir diese Befürchtungen dennoch für überzogen.

 

Aktuelle Inflationsentwicklung geprägt von Sonderfaktoren

Diese Einschätzung hängt mit der Interpretation der aktuellen Inflationsraten zusammen. Wir haben das Phänomen an dieser Stelle zwar schon öfter aufgegriffen, möchten es aber auch in diesem Zusammenhang nochmals betonen.

Die derzeitige Inflationsentwicklung wird im Wesentlichen von drei Faktoren getrieben.

 

1. Basiseffekt

Da ist zunächst der der Inflationsmessung zugrundeliegende sogenannte Basiseffekt. Dieser entsteht, weil Inflationsraten grundsätzlich für einen Monat des laufenden Jahres gegenüber dem gleichen Monat des vorigen Jahres gemessen werden.

Inflationsraten fallen demnach nicht nur umso höher aus, je höher das aktuelle Preisniveau ist, sondern auch je tiefer dasjenige vor einem Jahr war. Und das war im letzten Jahr aufgrund der Corona-Pandemie vor allem in der zweiten Jahreshälfte besonders niedrig.

 

2. Wegfall der Mehrwertsteuersenkung

Zudem ist im Sommer die zeitweise Senkung der Mehrwertsteuer im Zuge der Corona-Politik ausgelaufen. Hier haben wir es bei genauem Hinsehen zwar nur mit einem weiteren Aspekt des Basiseffekts zu tun, aufgrund der Größenordnung verdient dieser aber durchaus eine gesonderte Erwähnung.

Denn der Auslauf bedeutet nichts anderes als ein von jetzt auf gleich 3 % höheres Preisniveau!

 

 

3. Sprunghafter und massiver Anstieg einiger weniger Preise

Und schließlich entsteht der aktuelle Anstieg des allgemeinen Preisniveaus nicht durch einen breit angelegten Auftrieb aller Preise, sondern durch den sprunghaften und massiven Anstieg einiger weniger Preise (z. B. Strom, Gas, Öl, Benzin, aber auch Mietwagen, Hotels, Flüge).

Diese gehen zurück auf die massiven Nachfrageanstiege im Zuge der „Corona-Erholung“, die zum Teil auf der Angebotsseite aufgrund von Lieferkettenschwierigkeiten und zu langsamen Fördersteigerungen (bei Energierohstoffen) nicht ausreichend befriedigt werden können.

Die in einem marktmäßig organisierten System logische und auch nötige Folge: Die Preise steigen, um dieses Ungleichgewicht wieder auszugleichen.

 

Derartige Inflationsanstiege haben als Ausdruck der sprunghaften konjunkturellen Erholung also auch positive Aspekte – wenngleich eine möglichst zügige „Heilung“ der Angebotsengpässe natürlich wünschenswert ist. Und die Preisanstiege sind – aller Voraussicht nach – vorübergehend.

Insgesamt entsteht folgendes Bild einer Inflation, das auch die Notenbanken nach wie vor zeichnen: ein zwar kräftiger, aber letzten Endes eben doch temporärer Preisniveauanstieg.

Verstehen Sie uns hier bitte in zweierlei Hinsicht nicht falsch: Erstens ist das Eintreten dieser Erwartung natürlich keinesfalls sicher. Auch zunächst nur als vorübergehend erscheinende Preisniveausteigerungen können sich durchaus verfestigen, nämlich immer dann, wenn dadurch eine Spirale aus Preis- und Lohnerhöhungen in Gang kommt.

Nach einer solchen Entwicklung sieht es derzeit zwar nicht aus, auszuschließen ist sie aber keinesfalls.

Zweitens ist auch ein vorübergehender, aber massiver Anstieg einzelner Preise (Öl, Gas, Strom etc.) für viele Haushalte eine ernstzunehmende und teilweise auch existenzbedrohende Entwicklung.

Wenn diese Herausforderung politisch angegangen werden soll, ist dies allerdings keine geld-, sondern eine sozialpolitische Aufgabe, d. h., nicht die EZB müsste mit Zinserhöhungen oder sonstigen geldpolitischen Straffungen reagieren, sondern die Regierungen mit entsprechenden Unterstützungsmaßnahmen.

 

Weidmann-Rücktritt: Geht damit der Lotse von Bord?

Doch kommen wir zurück zu Herrn Weidmann und damit zu einem weiteren Argument, weswegen die aktuelle Sorge um die Stabilität unserer Währung im Zusammenhang mit seinem Rücktritt aus unserer Sicht überzogen ist. Dies hängt mit der Abstimmungspraxis im EZB-Rat in den letzten Jahren zusammen.

Sosehr Herr Weidmann dort auch in der Sache gestritten haben mag (Details zum Inhalt der Sitzung werden der Öffentlichkeit nicht zugänglich gemacht), letztlich waren die Abstimmungsergebnisse des Gremiums in allen wesentlichen Entscheidungen der letzten Jahre einstimmig.

Auch Jens Weidmann hat sich also, so wie seine Kolleginnen und Kollegen, in Abwägung aller für und gegen eine geldpolitische Lockerung sprechenden Argumente in der Vergangenheit letztlich immer wieder dafür entschieden, die beschlossene Politik mitzutragen.

Das verdeutlicht für uns, dass diese Politik – bei allen Risiken, die mit ihr eingegangen werden, und bei allen möglichen Schwierigkeiten in der Zukunft, die sich durchaus nicht ausschließen lassen – am Ende auch von einem stabilitätsorientierten Geldpolitiker wie Weidmann für ein probates Mittel gehalten wurde, um die wirtschaftspolitischen Herausforderungen geldpolitisch zu meistern.

Denn keinesfalls haben wir es bei den drei großen wirtschaftlichen Krisen seiner Amtszeit – der Banken- und Wirtschaftskrise (2008), der Euro-Krise und der Corona-Krise – mit Herausforderungen zu tun, die ohne ein geldpolitisches Zutun ebenso gut oder sogar noch besser hätten gemeistert werden können.

Die Politik der EZB hat (wie im Übrigen auch die Politik der anderen Zentralbanken weltweit) zunächst den Zusammenbruch des Bankensektors, dann den Zusammenbruch des Euro und schließlich den Zusammenbruch der Realwirtschaft (mit) verhindert.

Es ist ein gefährlicher Trugschluss zu glauben, uns allen ginge es ohne die Geldpolitik der letzten 10 Jahre mindestens genauso gut – und obendrein hätten wir noch ansehnliche Sparbuchzinsen.

 

 

Wenn Herr Weidmann nun zum Jahresende abtritt, bedeutet dies also aus unserer Sicht kein offenes Tor für eine weiter steigende Inflation, für immer neue, dann vollkommen unbedachte geldpolitische Lockerungsschritte der EZB, keine unnötig langen Negativzinsen zu unser aller Schaden und damit eine Politik, die scheinbar ohne guten Grund das Fundament unserer Wirtschaftsordnung – unser Geld – aufs Spiel setzt.

Bei aller Kritik, die der EZB durchaus entgegenzubringen ist für die Risiken, die eingegangen werden, überwiegt letztlich – zumindest bis heute – die Möglichkeit, dass all dies auch weiterhin mit dafür verantwortlich ist, dass die Corona-Krise letztlich überwunden werden kann.

 

 

Allerdings – das ist und bleibt die Kehrseite dieser Medaille – wird es fast mit jedem Tag schwieriger, einen planbaren, verlässlichen, schadenfreien Ausstieg aus dieser Politik zu finden.

Und für diesen hätten wir uns Jens Weidmann durchaus weiter an Bord der Europäischen Zentralbank gewünscht.

 

Und wer folgt nach?

In der Nachfolge-Diskussion werden in Fachkreisen derzeit vor allem zwei Namen diskutiert.

Da wäre zum einen Isabel Schnabel. Sie ist bereits Mitglied im EZB-Direktorium und verantwortet das Ressort Marktoperation. Sie ist damit für die Umsetzung der Geldpolitik verantwortlich, also auch für das in Deutschland umstrittene billionenschwere Anleihen-Kaufprogramm.

Isabel Schnabel war vorher Vizepräsidentin der Bundesbank und eine der sogenannten „Wirtschaftsweisen“. Sie ist spezialisiert auf die Themen Bankenregulierung und Finanzkrisen.

Da Schnabel weder eindeutig den Anhängern der harten Geldpolitik, auch „Falken“ genannt, noch der lockeren Geldpolitik, „Tauben“ genannt, zuzuordnen ist, kann sie zwischen beiden Lagern vermitteln.

Zudem gilt die zu den einflussreichsten Wirtschaftswissenschaftlerinnen des Landes zählende Ökonomin als meinungsstark, kommunikativ und als eine überzeugte Europäerin.

Letztere Attribute spricht man auch einem weiteren Favoriten auf den Posten zu: Marcel Fratzscher, seines Zeichens Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung und einer der bekanntesten Ökonomen Deutschlands.

Er gilt als SPD-nah und war Berater des Wirtschaftsministeriums, als es vom Sozialdemokraten Sigmar Gabriel geführt wurde. Fratzscher hat zudem eine Professur an der Humboldt-Universität inne.

Beide verfügen sicherlich über das nötige fachliche und persönliche Rüstzeug, um die anspruchsvollen Aufgaben zufriedenstellend zu bewältigen, wenngleich wir Frau Schnabel für die bessere Wahl halten.

 

Autor: Prof. Dr. Stefan May, Leiter Anlagemanagement der Quirin Privatbank

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