Börsen ohne klare Richtung?

Quirin Privatbank: Nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine im Februar 2022 waren viele davon überzeugt, dass es insbesondere an den Aktienmärkten zu erheblichen Verlusten kommen würde.

Immerhin handelt es sich hierbei um die erste kriegerische Auseinandersetzung in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg unter Beteiligung einer Atommacht.

Wie erwartet, sind die Kurse zwar tatsächlich gefallen, doch zum einen nicht so kräftig wie von vielen befürchtet und zum anderen haben sie sich mittlerweile wieder kräftig erholt, was die nachfolgende Grafik am Beispiel des deutschen Aktienindex DAX verdeutlicht.

 

 

Zwei Jahre Seitwärtsbewegung: Uneinigkeit über Richtung der Aktienmärkte

Auch wenn der DAX zwischenzeitlich heftigeren Schwankungen unterlag, bleibt festzuhalten: Seit nunmehr zwei Jahren hat er sich per Saldo kaum verändert.

Damit ist der deutsche Leitindex kein Einzelfall, denn viele andere Aktienmärkte treten im Zwei-Jahres-Vergleich ebenfalls mehr oder weniger auf der Stelle und es ist keine eindeutige Richtung erkennbar.

Dieser Umstand macht Anlegerinnen und Anleger zunehmend ungeduldig und nervös, die sich ein klares Bild wünschen, wohin denn nun die Reise geht.

Im Wesentlichen gibt es derzeit zwei Interpretationen der richtungslosen Börsen: Pessimisten interpretieren die Situation als Ruhe vor dem Sturm und gehen davon aus, dass der eigentliche Einbruch der Kurse noch bevorsteht.

Optimisten dagegen deuten die zweijährige Seitwärtsbewegung als ein Signal, dass die kriegsbedingten und anderen negativen Effekte (wie die Zinswende) mittlerweile eingepreist sind und man bald wieder mit einer Fortsetzung der Aufwärtsbewegung rechnen könne.

Vorausgesetzt, es gibt keine weiteren Hiobsbotschaften wie z. B. den Einsatz von Atomwaffen im Ukraine-Krieg oder die Einnahme Taiwans durch China.

Selbstverständlich wüssten auch wir nur zu gerne, welche der beiden Fraktionen am Ende Recht behalten wird. Die unangenehme Wahrheit aber ist: Wir wissen es schlichtweg nicht und auch sonst kann es niemand wissen – auch das Heer der selbsternannten Börsengurus nicht. 

Folglich gilt: Sowohl erneute und sogar heftigere Kurseinbrüche sind möglich als auch ein weiterer kräftiger Kursschub nach der jüngsten Verschnaufpause an den Börsen.

Die Analyse der langfristigen Aktienmarkthistorie gibt uns nun zwar keinen Hinweis, wohin die Märkte kurzfristig laufen werden, dafür zeigt sie aber etwas sehr Aufschlussreiches: Durststrecken an den Aktienmärkten, wie wir sie auch aktuell beobachten, sind keine Ausnahmen, sondern die Regel.

Überspitzt formuliert: Die meiste Zeit ist an den Märkten Langeweile angesagt.

 

Langfrist-Charts erwecken häufig einen falschen Eindruck

Betrachtet man die üblichen Langfristdarstellungen von Kursverläufen, dann drängt sich zunächst ein ganz anderes Bild auf: So erweckt beispielsweise die 122-jährige Kurshistorie des Dow-Jones-Index – des weltweit wohl bekanntesten Aktienindex – den Eindruck einer permanenten Nach-oben-Bewegung, die zwar von Zeit zu Zeit durch vorübergehende Kursrückschläge unterbrochen wird, sich aber alsbald wieder zügig fortsetzt.

So hat der Dow seit 1900 insgesamt immerhin um knapp 7,5% jährlich zugelegt. Der wesentlich breiter gestreute amerikanische S&P-500-Index, für den seit 1927 Daten vorliegen, glänzte sogar mit einer durchschnittlichen Performance von jährlich knapp 8,5%.

 

Selbst größere Aktienmarkteinbrüche – wie z. B. der Crash im Zuge der Weltwirtschaftskrise 1929 oder der Finanzmarktkrise 2008 – wirken beim Betrachten von langfristigen Charts (wie bei nachfolgendem) häufig wie harmlose „Betriebsunfälle“, deren negative Folgen schnell wieder beseitigt wurden.

 

 

Doch Vorsicht: Genauere Betrachtung zeigt ein differenzierteres Bild

Analysiert man die Historie jedoch etwas genauer, dann ergibt sich ein anderes Bild. Um dieses sichtbar zu machen, haben wir die gesamte Dow-Historie seit 1900 in insgesamt zwölf Zehn-Jahres-Intervalle aufgeteilt.

Die entsprechenden Kursentwicklungen der jeweiligen Intervalle finden sich in der nachfolgenden Grafik.

Sie sind nun nicht mehr logarithmisch dargestellt, sondern linear, wie dies bei eher kürzeren Betrachtungszeiträumen üblich ist.

 

 

Nun kann von einer stetigen Aufwärtsbewegung, die lediglich ab und zu durch Kurseinbrüche unterbrochen wurde, keine Rede mehr sein.

Stattdessen haben wir es in der Mehrzahl mit Phasen seitwärts laufender oder teilweise sogar fallender Kurse zu tun. So waren in sieben der zwölf dargestellten Jahrzehnte die Wertentwicklungen enttäuschend.

Ähnliches gilt in gewisser Weise auch für die Phase von 2021 bis heute, in der die Kurse ebenfalls über weite Strecken keine klare Richtung einschlugen (siehe nachfolgende Grafik).

 

 

Langeweile und Kurssprünge prägen die Performance

Zudem sind es auch innerhalb der betrachteten 10-Jahres-Zeiträume oftmals nur ganz kurze Phasen, die für die letztlich positive Gesamtperformance verantwortlich sind.

Beispielhaft zeigte sich das in den Jahren 1971 bis 1980, in denen die ohnehin magere Zehn-Jahres-Wertentwicklung von knapp 1,5% p. a. vor allem im Jahr 1975 und in den ersten Monaten des Jahres 1976 erwirtschaftet wurde. Allein in dieser kurzen Zeitspanne von knapp anderthalb Jahren hat der Index um rund 30% zugelegt.

Das Phänomen eher langweiliger und vordergründig orientierungsloser Markphasen, die von Zeit zu Zeit von extremen Kurssteigerungen unterbrochen werden, kann man immer wieder beobachten, auch in Zeiträumen und an vielen anderen Aktienmärkten, die hier nicht explizit dargestellt sind.

Zudem zeigt sich diese „Lethargie“ nicht nur bei relativ langen Zeiträumen, sondern auch bei kürzeren Betrachtungszeiträumen. Die entsprechende „Feinkörnigkeit“ reicht bis hinein in einzelne Handelstage, an denen die Börsen sensationell gut laufen und so die Gesamtperformance auch für einen längeren Zeitraum wesentlich prägen.

Somit gilt: Der Grundstein für die nicht selten hervorragende Performance der Aktienmärkte über längere Zeiträume hinweg wird meist in einem relativ eng begrenzten Zeitfenster gelegt.

Die meiste Zeit über herrscht dagegen Ungeduld, weil die Märkte seitwärts laufen, oder gar Untergangsstimmung, weil sie kontinuierlich fallen.

 

Fazit für Anlegerinnen und Anleger

Welche Bedeutung haben die geschilderten Zusammenhänge nun für die Anlagepraxis? Im Wesentlichen lassen sich folgende Schlussfolgerungen ziehen:

Wenn die insgesamt außerordentlich gute langfristige Aktienmarktperformance letztlich in nur relativ eng begrenzten Zeitabschnitten (den sogenannten „Bullenmärkten“) erwirtschaftet wird, dann ist es umso wichtiger, diese Zeitfenster zu identifizieren und auch nur dann investiert zu sein.

Genau das versucht man, unter Anwendung von aktiven Wertpapierstrategien – speziell des sog. Market-Timings – seit Jahrzehnten zu erreichen. Aber ohne wirklich durchschlagenden Erfolg, wie objektive wissenschaftliche Untersuchungen immer wieder belegen.

Wenn derartige Timing-Strategien überhaut einmal erfolgreich waren, dann konnte bisher immer nachgewiesen werden, dass dies in „nicht signifikanter Weise“ geschehen ist, d. h. zufällig zustande kam … oder: Man hat einfach Glück gehabt.

Wenn man die wissenschaftlich erwiesene Erfolglosigkeit aktiver Strategien wie des Market-Timings wirklich ernst nimmt und damit der Versuch, ausschließlich in Bullenmärkten investiert zu sein, ausscheidet, dann rückt eine andere Schlussfolgerung in den Vordergrund:

Wenn man sicherstellen will, dass man in den Bullenphasen der Börsen auch tatsächlich investiert ist, aber keine verlässliche Möglichkeit existiert, diese Phasen rechtzeitig zu identifizieren, dann muss man schlichtweg immer investiert sein.

Nichts ist für die Wertentwicklung eines Aktiendepots fataler, als die kurzen performanceträchtigen Zeiträume an den Börsen zu verpassen.

Genau hierauf fußt unsere fast schon gebetsmühlenartig wiederholte Empfehlung, Anlageentscheidungen auf keinen Fall von aktuellen Einschätzungen und Vermutungen über die weitere Marktentwicklung abhängig zu machen.

Wer bereits investiert ist, für den gilt: Unbedingt investiert bleiben, selbst bei Kurseinbrüchen und extremen Marktturbulenzen.

Wer dagegen plant, zu investieren, für den gilt die Maxime: Der beste Einstiegszeitpunkt ist immer jetzt! Und immer an eine breite Streuung der Investments denken!

 

Autor: Prof. Dr. Stefan May, Leiter Anlagestrategie und Produktentwicklung der Quirin Privatbank

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