Indiens Wirtschaftswachstum: Chancen trotz US-Zollrisiken und regionalen Spannungen
Am 30. Mai wird die nationale indische Statistikbehörde die Wachstumszahlen für die Monate Januar bis März veröffentlichen, die gleichzeitig das vierte Quartal des indischen Fiskaljahres markieren. Erwartet wird ein BIP-Zuwachs von 6,8 % gg. Vj., was eine Beschleunigung der Dynamik im Vergleich zum dritten Quartal bedeuten würde (6,2 %).
Auch die Industrieproduktion zeigte sich zuletzt robust und lässt auf eine solide BIP-Entwicklung hoffen.
Im Gesamtjahr 2024/2025 ist damit ein Wachstum von 6,5 % möglich.
Dies stellt zwar eine Verlangsamung gegenüber 2023/2024 dar, das mit 9,2 % einen der höchsten BIP-Zuwächse der vergangenen zwölf Jahre aufwies. Indien bleibt dennoch eines der weltweit am schnellsten wachsenden Länder und ist auf dem besten Weg, nach den USA, China und Deutschland die viertgrößte Volkswirtschaft zu werden. Der IWF schätzt, dass dies spätestens 2026 der Fall sein wird.
BIP-Wachstum von 6,3 %
Für das laufende Fiskaljahr rechnen wir mit einem BIP-Wachstum von 6,3 %. Positive Aussichten für das künftige Wachstum zeigen die Einkaufsmanagerindizes (PMIs). Die Frühindikatoren liegen weit im Expansionsbereich: So stieg der Index für das Verarbeitende Gewerbe im März auf ein 10-Monatshoch bei 58,2 Punkten.
Das Pendant im Servicebereich verzeichnet sogar noch höhere Niveaus, sodass sich per Saldo eine freundliche Indikation für die Wirtschaftstätigkeit ableiten lässt.
Risiken für das indische Wirtschaftswachstum ergeben sich derweil vor allem durch die erratische US-Zollpolitik.
Anfang April kündigte Präsident Trump am so genannten „Liberation Day“ eine Reihe von Zöllen gegen fast alle Länder weltweit an. Für Indien, dem Trump das hohe bilaterale US-Handelsdefizit und ausgeprägten Protektionismus vorwirft, wurde initial ein Zoll von 26 % festgesetzt, was einen erheblichen Aufschlag im Vergleich zu dem laut WTO bislang geltenden durchschnittlichen Zollsatz von nur 3,3 % bedeutet.
Nach einigem Hin und Her gilt inzwischen für fast alle Länder eine 90tägige „Gnadenfrist“ mit einem Pauschalzoll von 10 %, die am 9. Juli endet.
Wir gehen davon aus, dass sich die Auswirkungen der Zollpolitik auf die indische Wirtschaft in Grenzen halten werden. Indien ist dank seines enormen Binnenmarktes weniger stark von Exporten abhängig als andere Staaten in der Region. So liegt die Exportquote laut Weltbank bei knapp 20 % des BIP und damit deutlich niedriger als beispielsweise in Vietnam (90 %) oder Thailand (65 %).
Nichtsdestoweniger sind die USA mit einem Anteil von gut 18 % an den indischen Gesamtexporten der größte Ausfuhrmarkt und insgesamt der wichtigste Handelspartner Indiens. Das Land exportierte 2024 Waren im Wert von mehr als 80 Mrd. Mrd. US-Dollar in die USA, während sich umgekehrt die amerikanischen Exporte auf rund 40 Mrd. US-Dollar beliefen.
Dies führte zu einer Ausweitung des US-Handelsdefizits auf etwa 40 Mrd. US-Dollar.
Zu den wichtigsten indischen Exportgütern mit Ziel USA gehören pharmazeutische Produkte (die von den Zöllen derzeit noch ausgenommen sind), Elektronik, Edelsteine und Schmuck sowie Nahrungsmittel.
Indien und die USA schätzen sich als Handelspartner. Donald Trump und Narendra Modi pflegen ein freundschaftliches Verhältnis und bekräftigten bei ihrem letzten Treffen im Februar, die Beziehungen beider Länder zu vertiefen. Das ambitionierte Ziel: Den bilateralen Handel bis 2030 auf rund 500 Mrd. US-Dollar mehr als zu verdoppeln. Wir erwarten daher, dass sich beiden Seiten bemühen, eine Lösung im Zollstreit zu finden.
Beide Nationen befinden sich bereits in Gesprächen über ein bilaterales Freihandelsabkommen und die erste Phase soll schon im Herbst abgeschlossen sein. Indien erwägt seinerseits aktiv den Abbau tarifärer sowie nichttarifärer Handelshemmnisse und hat bekräftigt, künftig mehr Rohöl und Flüssiggas aus den USA einzuführen.
Darüber hinaus hat die indische Regierung angekündigt, ihre Exportmärkte weiter zu diversifizieren und vor allem den regionalen Handel zu stärken, um die Abhängigkeit von den USA zu verringern und die wirtschaftliche Widerstandsfähigkeit zu festigen. Weitere Freihandelsabkommen könnten diese Entwicklung unterstützen. So wurden Anfang Mai die fast dreijährigen Verhandlungen mit dem Vereinigten Königreich abgeschlossen. Einmal ratifiziert, wird das neue Abkommen die Zölle auf die indischen Exporte dorthin fast komplett beseitigen.
Gleichzeitig könnte die US-Zollpolitik sogar zu positiven Effekten für die indische Wirtschaft führen.
Die in der ursprünglichen Liste genannten Zollsätze für andere asiatische Länder liegen teilweise deutlich über dem indischen Satz, darunter Vietnam, Bangladesch, Kambodscha oder eben China. In bestimmten Exportsektoren wie Textilien, Schuhen oder Elektronik kann es daher zu Handelsverlagerungen kommen, wenn US-Unternehmen diese Produkte künftig zu geringeren Zollsätzen aus Indien importieren. Gelingt es den indischen Produzenten, diesen neuen Wettbewerbsvorteil mit Hilfe einer klugen Produktions- und Handelspolitik zu nutzen, kann das Land von einer Exportumlenkung profitieren und sich Marktanteile sichern.
Zur Unterstützung des Wirtschaftswachstums hat die indische Zentralbank in diesem Jahr die Zinswende eingeleitet. Zum ersten Mal seit fünf Jahren senkte die RBI im Februar den Leitzins um 25 Basispunkte auf 6,25 %, im April folgte ein weiterer Schritt auf nun 6 %.
Auch wenn die von den USA verhängten Zölle zeitweilig ausgesetzt wurden und die Chancen für ein Handelsabkommen gut stehen, sind die Risiken für das indische Wachstum angesichts der unsicheren Zollpolitik zuletzt etwas gestiegen.
Daher gehen wir davon aus, dass die RBI ihre geldpolitische Lockerung im weiteren Verlauf des Jahres fortsetzen wird.
Den Spielraum hierzu hat sie dank des günstigen Inflationsumfelds: Die Verbraucherpreise sind zuletzt weniger stark gestiegen als erwartet, was vor allem auf rückläufige Lebensmittel- und Rohstoffpreise zurückzuführen ist. Im April lag die Gesamtinflation bei 3,2 % – der niedrigste Wert seit fast sechs Jahren. Die Nahrungsmittelpreise waren zuletzt nur um 1,8 % gestiegen. Hier kann die RBI also flexibel auf mögliche Wachstumsrisiken reagieren.
Für kurzzeitige Verunsicherung sorgten zuletzt die Spannungen zwischen Indien und seinem nördlichen Nachbarn Pakistan. Immer wieder kommt es wegen der umstrittenen Kaschmir-Region, die zwischen beiden Ländern liegt, zu Unruhen, denn beide Staaten beanspruchen das im Himalaya liegende Gebiet für sich. Der seit dem Ende der britischen Kolonialherrschaft vor fast 80 Jahren schwelende Konflikt erfuhr Mitte April eine erneute Eskalation, als bei einem mutmaßlich terroristischen Angriff in einer Urlaubsregion im indischen Teil Kaschmirs 26 Menschen ums Leben kamen. Die Regierung in Neu-Delhi machte Pakistan für die Unterstützung der Angreifer verantwortlich.
Nach Luftangriffen auf beiden Seiten wurde am 10. Mai eine Waffenruhe unter US-Vermittlung vereinbart, die bisher zu halten scheint.
Während die jüngste Eskalation kritisch zu werten ist und es auch in den kommenden Jahren immer wieder zu Ausschreitungen kommen dürfte, sollten sich keine spürbaren Auswirkungen auf das Wirtschaftswachstum ergeben.
Ein ausgeprägter militärischer Konflikt liegt außerhalb unserer Basiserwartungen.
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