Aktien im Fokus: Deutschlands Autoriesen am Abgrund – was die Nexperia-Krise für VW, BMW, Mercedes und Porsche bedeutet
Die europäische Automobilindustrie, einst das unangefochtene Juwel der industriellen Krone des Kontinents, steht am Rande eines tiefen Abgrunds. Eine eskalierende Krise um den niederländischen Halbleiterhersteller Nexperia legt die tiefgreifenden, strukturellen Schwächen offen, die den Sektor seit Jahren belasten.
Während Führungskräfte von Volkswagen und Volvo vor drohenden Werksschließungen warnen, wird deutlich, dass die aktuelle Notlage das Ergebnis jahrelanger Entwicklungen ist, die nun in einem perfekten Sturm zusammentreffen.
Der Nexperia-Schock: Wie ein politischer Eingriff zur Industriekrise wird
Die jüngsten Ereignisse lesen sich wie das Drehbuch eines wirtschaftlichen Thrillers. Im Oktober übernimmt die niederländische Regierung unter Wirtschaftsminister Vincent Karremans die Kontrolle über den chinesischen Chiphersteller Nexperia, um die nationale Sicherheit zu wahren. Peking reagiert prompt mit einem Exportverbot für die in China gefertigten Chips des Unternehmens.
Die Folge ist ein Schock, der durch die globalen Lieferketten der Automobilindustrie hallt.
Nexperia liefert keine Chips mehr – doch ausgelöst hat den Konflikt nicht die Automobilindustrie, sondern eine politische Entscheidung in Den Haag. Die deutschen Autobauer werden nun zu Kollateralschäden einer geopolitischen Auseinandersetzung, auf die sie keinen (direkten) Einfluss haben.
Für die deutschen Premiumhersteller könnte das Timing kaum ungünstiger sein. Nexperia-Chips sind zwar keine hochmodernen Bauteile, aber sie sind das Nervensystem eines jeden modernen Fahrzeugs. Bis zu 3.000 dieser Chips stecken in einem einzigen Elektroauto und steuern alles von Airbags bis zu Infotainmentsystemen.
Ein hochrangiger, anonymer Vertreter der Automobilindustrie warnte gegenüber Politico unmissverständlich:
„Wir werden kurzfristig weltweit Produktionsstopps und -verlangsamungen sehen, weil viele Zulieferer nicht die Tiefe an Chip-Vorräten haben. Der Automobilsektor steht im Herzen des Sturms.“
Diese Krise ist eine erschreckende Wiederholung der Engpässe während der COVID-19-Pandemie 2021.
Damals gelobten Industrie und Politik Besserung und versprachen, die Lieferketten zu diversifizieren.
Die Realität zeigt sich anders — die europäische Autoindustrie befindet sich erneut in einer prekären Lage.
Volkswagen: Der Konzern-Riese unter dreifachem Druck
Volkswagen, Europas größter Automobilhersteller, steht exemplarisch für die Herausforderungen der Branche. Der Konzern kämpft an mehreren Fronten gleichzeitig. Die Nexperia-Krise trifft auf eine bereits angespannte Situation: VW hat in den vergangenen Monaten erstmals in der Unternehmensgeschichte Werksschließungen in Deutschland nicht mehr ausgeschlossen. Die Stammwerke in Wolfsburg, Emden und Zwickau operieren deutlich unter ihrer Kapazität.
Die Abhängigkeit vom chinesischen Markt zeigt sich bei VW besonders deutlich. Rund 40% des Konzernumsatzes wird in China erwirtschaftet — ein Markt, der zunehmend von heimischen Herstellern wie BYD dominiert wird. Die neue ID-Reihe sollte die Wende bringen, doch die Elektromodelle kämpfen mit Softwareproblemen und schwächelnder Nachfrage.
Der aktuelle Lieferengpass bei kritischen Chips verschärft die ohnehin angespannte Produktionssituation weiter!
Volkswagen Aktie Chart
BMW und Mercedes-Benz: Premiumanspruch trifft auf Realität der Abhängigkeit
Die beiden Münchner bzw. Stuttgarter Premiumhersteller stehen vor ähnlichen Herausforderungen, wenn auch mit unterschiedlichen Vorzeichen. BMW hatte zuletzt noch vergleichsweise stabile Zahlen präsentiert, doch auch hier zeigen sich Risse im Fundament. Die Abhängigkeit von Nexperia-Chips betrifft insbesondere die hochintegrierten Elektro- und Hybrid-Modelle wie den iX.
BMW Chart
Mercedes-Benz wiederum hat sich strategisch noch stärker auf das Premiumsegment fokussiert — eine Strategie, die in Zeiten wirtschaftlicher Unsicherheit und Lieferkettenkrisen zur Belastung werden kann. Die EQ-Modellreihe ist auf eine zuverlässige Versorgung mit Halbleitern angewiesen. Produktionsverzögerungen treffen den Konzern härter als Volumenhersteller, da die Margen zwar höher, die Stückzahlen aber geringer sind.
Mercedes Benz Chart
Die deutschen Automobilhersteller im Überblick
Volkswagen — China-Umsatzanteil ca. 40%
Werksauslastung bereits kritisch; große E-Modell-Offensive gefährdet. Der Konzern steht unter dreifachem Druck aus Überkapazitäten, schwächelnder China-Nachfrage und nun drohenden Chip-Engpässen.
BMW — China-Umsatzanteil ca. 33%
Neue Klasse Launch 2025 in Gefahr; iX-Produktion unmittelbar betroffen. Die strategisch wichtige Elektro-Offensive des Münchner Konzerns könnte sich um Monate verzögern.
Mercedes-Benz — China-Umsatzanteil ca. 36%
Premium-Strategie besonders anfällig; EQ-Reihe extrem chipintensiv. Jede Produktionsverzögerung trifft den Stuttgarter Konzern härter als Volumenhersteller.
Porsche — China-Umsatzanteil ca. 27%
Taycan-Familie direkt betroffen; hohe Margen bei niedrigen Volumina. Jedes nicht produzierte Fahrzeug bedeutet direkten Gewinnausfall bei hohen Fixkosten.
Porsche: Wenn Sportwagen-DNA auf Chip-Knappheit trifft
Die Porsche AG, seit 2022 eigenständig an der Börse notiert, profitiert von höchsten Margen in der Branche und einer treuen, zahlungskräftigen Kundschaft. Doch auch hier zeigt die Nexperia-Krise ihre Wirkung. Der vollelektrische Taycan und dessen Derivate sind technologisch hochkomplex und auf eine lückenlose Versorgung mit Halbleitern angewiesen.
Ein besonderes Risiko für Porsche liegt in der Produktionsstruktur. Anders als Volumenhersteller kann Porsche nicht einfach auf alternative Modelle ausweichen oder Produktionsverluste durch höhere Stückzahlen kompensieren. Jedes nicht produzierte Fahrzeug bedeutet einen direkten Gewinnausfall bei gleichzeitig hohen Fixkosten.
Und die aktuellen Porsche-Zahlen lassen Schlimmstes befürchten …
Porsche Aktie Chart
Die Anatomie der Abhängigkeit: Mehr als nur Chips
Die Krise der europäischen Autoindustrie reicht jedoch weitaus tiefer als ein Mangel an Halbleitern. Sie offenbart strukturelle Abhängigkeiten in mehreren kritischen Bereichen der zukünftigen Mobilität. Während europäische Hersteller den Verbrennungsmotor perfektionierten — ein „ultimativer Wettbewerbsvorteil“, wie Andreas Herrmann von der Universität St. Gallen es nennt — entstanden bei Zukunftstechnologien starke Konzentrationen bei asiatischen Zulieferern.
Kritische Abhängigkeiten in der Lieferkette
Halbleiter
Dominanz Chinas bei Verpackung und Testung; kritische Rolle bei Standard-Chips. Betrifft alle Fahrzeugklassen, besonders E-Modelle. Der Nexperia-Fall zeigt die Verwundbarkeit weniger fortschrittlicher, aber unverzichtbarer Komponenten.
Seltene Erden
Über 90% der EU-Importe stammen aus China. Unverzichtbar für E-Motoren; China nutzt Exportlizenzen als geopolitisches Instrument. Alternative Bezugsquellen existieren kaum und sind deutlich teurer.
Batterien
Dominanz bei Technologie, Produktion und Rohstoffen. Europäische Zellfertigung hinkt Jahre hinterher. Neue Projekte wie Northvolt stehen vor immensen finanziellen und technischen Herausforderungen.
Software
Chinesische Hersteller technologisch führend bei Assistenzsystemen und Benutzeroberflächen. Deutsche OEMs kämpfen mit eigener Software-Entwicklung; Cariad bei VW steht symbolisch für diese Schwäche.
Diese Konzentrationen sind nicht primär das Ergebnis strategischer Fehlentscheidungen, sondern entwickelten sich über Jahre durch die Härte des globalen Wettbewerbs.
Kosteneffizienz und Just-in-Time-Produktion machten es schwierig, redundante Lieferketten aufzubauen.
Die Folgen zeigen sich nun in voller Schärfe.
Börsenbewertungen unter Druck: Was Anleger wissen müssen
Die strukturellen Probleme der Branche spiegeln sich längst in den Aktienkursen wider. Alle vier deutschen Premiumhersteller haben in den vergangenen zwölf Monaten deutlich an Wert verloren. Die Nexperia-Krise dürfte diesen Trend verschärfen, denn sie offenbart die Verwundbarkeit der Geschäftsmodelle in einer zunehmend fragmentierten Weltwirtschaft.
Volkswagen notiert aktuell mit einem Kurs-Gewinn-Verhältnis von unter 4 — ein historisch niedriger Wert, der sowohl die akuten Probleme als auch die langfristigen Zweifel der Anleger widerspiegelt. Die Vorzugsaktie, traditionell beliebter bei Privatanlegern, zeigt sich noch schwächer als die Stammaktie. Analysten haben ihre Kursziele mehrfach nach unten angepasst; ein Ende der Talfahrt ist nicht in Sicht.
Bei BMW und Mercedes-Benz sieht die Bewertungssituation etwas besser aus, doch auch hier dominiert Vorsicht. Beide Unternehmen kämpfen mit sinkenden Margen in China und steigenden Investitionen in die Elektromobilität. Die Nexperia-Krise könnte die ohnehin ambitionierten Transformationspläne weiter verzögern und damit die Investitionsthese zusätzlich belasten.
Porsche, als jüngster Börsengang im Sektor, hatte von Beginn an mit Skepsis zu kämpfen. Die Bewertungsprämie gegenüber dem Mutterkonzern, ursprünglich mit der Markenexklusivität gerechtfertigt, ist inzwischen deutlich geschrumpft. Die Abhängigkeit vom Taycan-Erfolg macht die Aktie besonders anfällig für Produktionsstörungen.
Industriepolitik zwischen nationalen Interessen und globalen Zwängen
Die aktuelle Krise zeigt die Grenzen europäischer Industriepolitik. Der „EU Chips Act“, der Europas Anteil an der globalen Halbleiterproduktion bis 2030 auf 20% verdoppeln soll, ist bereits jetzt deutlich hinter den Erwartungen zurück. Die Ankündigung eines „Chips Act 2.0“ deutet auf die Schwierigkeiten hin, die ursprünglichen Ziele zu erreichen.
Europa wird zum Schauplatz eines geopolitischen Konflikts zwischen den USA und China.
Die niederländische Übernahme von Nexperia erfolgte unter amerikanischem Druck, die chinesische Reaktion war vorhersehbar. Die europäische Autoindustrie findet sich zwischen diesen Blöcken wieder, ohne ausreichende strategische Autonomie.
Arbeitsplätze, Regionen, Wertschöpfung: Die sozialen Kosten der Krise
Die Konsequenzen manifestieren sich bereits in harten Zahlen. Allein zwischen Sommer 2023 und Sommer 2024 gingen in der deutschen Autoindustrie 46.000 Arbeitsplätze verloren — fast so viele wie in den sechs Jahren zuvor. Städte wie Ingolstadt, Heimat von Audi, kämpfen mit Haushaltslöchern von bis zu 100 Millionen Euro, da die Gewerbesteuereinnahmen einbrechen.
Experten warnen, dass bis 2030 bis zu 30% der Wertschöpfung pro Auto aus der EU abwandern könnten.
Für Deutschland, wo die Automobilindustrie mit über 800.000 direkten Arbeitsplätzen und mehr als 2 Millionen indirekten Jobs eine tragende Säule der Wirtschaft bildet, wären die Folgen erheblich.
Die Nexperia-Krise beschleunigt einen Prozess, der bereits im Gang war.
Anlageurteil: Risiken und Chancen in der Balance
Für Anleger präsentiert sich eine komplexe Gemengelage. Die niedrigen Bewertungen spiegeln reale Risiken wider — Produktionsstopps, Margendruck, Transformationskosten. Gleichzeitig bieten sie theoretisches Erholungspotenzial, sofern die Unternehmen die Transformation erfolgreich meistern.
Kurzfristig dominieren die Risiken.
Die Nexperia-Krise dürfte zu Produktionsausfällen führen, deren Umfang noch nicht absehbar ist. Die Abhängigkeit von China in mehreren Dimensionen — als Absatzmarkt, Zulieferer und Technologiequelle — macht die Unternehmen verwundbar gegenüber geopolitischen Verwerfungen.
Langfristig hängt die Investitionsthese davon ab, ob die deutschen Hersteller ihre technologische Wettbewerbsfähigkeit zurückgewinnen können.
Initiativen wie E-Motoren ohne Seltene Erden oder neue Batterietechnologien zeigen Ansätze, doch der Zeithorizont ist lang und der Ausgang ungewiss.
Fazit: Strukturwandel unter Zwang
Die europäische Automobilindustrie durchlebt einen erzwungenen Strukturwandel. Die Nexperia-Krise ist ein Symptom tieferliegender Herausforderungen — der Abhängigkeit von konzentrierten Lieferketten, der Transformation zur Elektromobilität unter hohem Kostendruck und der geopolitischen Fragmentierung der Weltwirtschaft.
Volkswagen kämpft um die Zukunft seiner Stammwerke und muss beweisen, dass grundlegende Reformen möglich sind. BMW und Mercedes müssen ihre Elektro-Offensive gegen widrige Umstände durchsetzen und dabei ihre Premiummargen verteidigen. Porsche steht vor der Bewährungsprobe, ob Markenexklusivität auch in Krisenzeiten trägt.
Es gibt Hoffnungsschimmer — die Entwicklung von Elektromotoren ohne Seltene Erden durch ZF, neue erschwingliche E-Auto-Modelle, staatliche Unterstützungsprogramme. Doch diese punktuellen Fortschritte reichen nicht aus, um die systemischen Probleme zu lösen.
Ohne substanzielle Investitionen in technologische Souveränität und resiliente Lieferketten bleibt die Branche verwundbar.
Für Anleger bedeutet dies: Die aktuellen Bewertungen mögen attraktiv erscheinen, doch sie reflektieren reale Unsicherheiten. Wer investiert, muss bereit sein für einen langen Weg mit erheblicher Volatilität. Die nächsten Jahre werden zeigen, ob die deutschen Automobilgiganten die Kurve kriegen — oder ob der Abstieg unaufhaltsam ist.
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