Reaktion auf Inflation: USA und Deutschland im Vergleich

Quirin Privatbank: Der kräftige Anstieg der Inflationsraten in den großen Industrienationen der Welt hat die Mehrzahl der Marktbeobachterinnen und Marktbeobachter vollkommen überrascht.

Nicht zuletzt wir selbst konnten uns noch vor zwei Jahren eine zweistellige Inflationsrate in Deutschland beim besten Willen nicht vorstellen.

Viel zu ausgeprägt schienen seinerzeit noch die vielfältigen Beeinträchtigungen durch die Corona-Pandemie zu sein, zu massiv die Einschränkungen auf der Nachfrageseite – sprich: ein eher deflationäres Szenario und somit das Gegenteil von Inflation.

Und doch haben wir aktuell nun schon den zweiten Monat hintereinander erlebt, in dem die Inflationsrate in Deutschland bei 10% bzw. leicht darüber liegt.

 

 

Lange war zur Inflationsdynamik in Deutschland bzw. Europa zu hören, diese beruhe einzig und allein auf dem Krieg zwischen Russland und der Ukraine sowie daraus resultierenden vorübergehenden Verwerfungen auf dem Energiemarkt – Schlussfolgerung daraus: Die hohe Inflation sei nur ein kurzzeitiges Phänomen.

Tatsächlich aber zieht sich der Krieg länger hin als von vielen gedacht. Und so zeigt der Blick auf die aktuellen Inflationsdaten für den Monat Oktober, dass die Energiepreise weiterhin stark ansteigen. Gegenüber dem Oktober des Vorjahres beläuft sich der allgemeine Energiepreisanstieg den Zahlen des Statistischen Bundesamtes zufolge auf sage und schreibe 43%.

Ganz vorne lag dabei – wie nicht anders zu erwarten – Erdgas mit einem Preisanstieg von fast 110% gegenüber dem Vorjahresmonat. Auch die sehr transport- und damit energieintensiven Lebensmittel verteuerten sich mit gut 20% weiter überdurchschnittlich.

Würde man Energie und Lebensmittel bei der Inflationsberechnung außen vor lassen, läge die aktuelle Teuerungsrate mit 5% etwa halb so hoch wie die zuletzt offiziell ausgewiesene Inflationsrate.

 

 

Inflation verfestigt sich

Auch wenn die Energiepreise das Inflationsgeschehen unverändert dominieren und ihr drastischer Anstieg vor allem auf den Krieg in Osteuropa zurückzuführen ist, bleibt dennoch festzuhalten: Selbst ohne diesen Sondereffekt und ohne den Anstieg der Lebensmittelpreise läge die Inflation inzwischen bei 5% (sog. „Kerninflationsrate“).

Auch das ist mit Preisniveaustabilität alles andere als vereinbar – hier gilt im Allgemeinen eine jährliche Teuerungsrate von 2% als Richtschnur.

Diese Dynamik hat aber beileibe nicht erst mit dem Angriff Russlands auf die Ukraine Ende Februar 2022 eingesetzt. Schon im Jahresverlauf 2021 war eine Zunahme der Inflationsraten – natürlich auf viel niedrigerem Niveau – klar zu erkennen.

Allerdings – und da sind wir wieder bei unserer und der Vorstellungskraft vieler anderer Fachleute – fand diese Trendumkehr noch zu einer Zeit statt, die massiv von den Nachwirkungen der Corona-Lockdowns sowie deren wirtschaftlich nachteiligen Effekten geprägt war.

Leicht steigende Inflationsraten waren in diesem Umfeld zunächst für die meisten kein wirkliches Warnsignal.

 

Hat die EZB im Gegensatz zur US-Notenbank bei der Inflationsbekämpfung versagt?

Gerade in den letzten Wochen häufen sich allerdings Berichterstattungen bzw. Meinungsäußerungen, die zum Tenor haben, dass die Notenbanken und ihre Verantwortlichen schlicht und ergreifend geschlafen hätten, weil sie die aufziehenden Inflationsgefahren als ein vorübergehendes Phänomen abgetan und erst viel zu spät gegengesteuert hätten.

Vor allem die Europäische Zentralbank (EZB), so ist der Tagespresse immer wieder zu entnehmen, habe sich beim Kampf gegen die hartnäckige Inflation restlos blamiert und in der Folge das in sie gesetzte Vertrauen verspielt.

Insbesondere im Vergleich zur US-Notenbank Fed (kurz für: Federal Reserve Bank), die schon viel früher und auch viel beherzter gegen die Inflation mittels Leitzinserhöhungen vorgegangen ist, sei die EZB viel zu zögerlich gewesen und habe schlichtweg versagt. Schließlich sollte doch Preisstabilität das oberste Gebot der Währungshüter sein.

Hinzu kommt: Die USA hätten doch eine Blaupause dafür geliefert, was da noch in Sachen Inflation auf Europa zukommen würde. Und genau diese heftige Inflationswelle sei dann auch über den Atlantik herübergeschwappt, während die EZB einfach seelenruhig abgewartet und die Hände in den Schoß gelegt habe.

So oder ähnlich wird oft argumentiert.

 

USA versus Deutschland: unterschiedliche Ausgangslage in Sachen Inflation

So übertrieben pointiert, wie wir die oft anzutreffenden Einschätzungen wiedergegeben haben, so falsch sind sie nüchtern betrachtet. Denn hierbei wird fälschlicherweise unterstellt, dass die Inflationsdynamik und auch der Zeitpunkt der Entstehung der Inflation dies- und jenseits des Atlantiks identisch gewesen seien.

In diesem Fall könnte man das lange Zögern der EZB tatsächlich nicht rechtfertigen. Ein Blick auf die maßgeblichen Daten zeigt aber, dass die Preisdynamiken ganz unterschiedlich gewirkt haben.

Nehmen wir als Erstes die Entwicklung der Inflationsraten an sich. Zum Jahresende 2020 lag die Inflationsrate in den USA bei 1,4 %, nachdem sie im November und Oktober noch jeweils 1,2 % betragen hatte.

Was sich zunächst nicht nach hoher Inflationsdynamik anhört, gewinnt im internationalen Vergleich durchaus an Bedeutung, denn in Deutschland und der Euro-Zone war die Inflation seinerzeit mit jeweils -0,3% sogar noch rückläufig (Inflationsrate Deutschland November 2020: -0,3%, Oktober: -0,2%).

 

 

Schon hier fällt also die in den USA deutlich höhere Inflationsrate per Ende 2020 auf. Dort lag die Inflationsrate auch bereits im März 2021 erstmals wieder über der viel beachteten Marke von 2%, nämlich bei 2,6%. In Deutschland und Europa war dies erst zwei Monate später der Fall.

Der schon zum Jahresende 2020 herrschende Unterschied in der Inflationshöhe blieb auch über die folgenden Monate bestehen. Erst mit dem Energiepreisschock zum Beginn des 2. Quartals 2022 schloss sich diese Lücke langsam und kehrte sich jüngst um.

Noch aufschlussreicher ist der Blick auf die Kerninflationsraten in Deutschland und den USA. Diese berechnen sich – wie bereits kurz erwähnt – ohne Berücksichtigung der meist sehr schwankungsanfälligen Preise für Energie und Nahrungsmittel.

Während höhere Inflationsraten also vorübergehend von der Entwicklung der letztgenannten Preise verzerrt sein können, gibt die Kernrate der Inflation ein realistischeres Bild der zugrundeliegenden Inflationsdynamik ab.

 

 

Das heißt im Umkehrschluss aber auch: Hohe Kerninflationsraten sind noch weit besorgniserregender als erhöhte Raten der allgemeinen Preisentwicklung, denn sie sind ein starker Hinweis darauf, dass sich die Inflation in der Wirtschaft gewissermaßen auf breiter Front festgesetzt hat.

Beim Blick auf die Entwicklung dieser Kernrate fällt nun erneut eine zeitliche Diskrepanz beim Anstieg zwischen den USA und der Euro-Zone auf, mit Deutschland als wichtigster Wirtschaftsnation: Im Dezember 2020 lag die Kerninflation in Deutschland wie auch die Inflationsrate im Allgemeinen bei -0,3%.

In den USA hingegen lag die Kernrate zu diesem Zeitpunkt mit 1,6% bereits deutlich höher. Schon im Juni 2021 hatte sie dort 4,% erreicht, während sie in Deutschland noch bei völlig unverdächtigen 1,8% lag.

Erst im September dieses Jahres – also gut ein Jahr später – erreichte sie in Deutschland mit 4,6% ein ähnlich hohes Niveau.

In den USA hingegen lag sie schon seit Anfang 2022 fast durchgängig bei 6 % oder nicht selten darüber.

 

 

Der Vergleich der Daten zeigt also: Offenbar hat sich die Inflation in den USA schon deutlich früher, hartnäckiger und auf einer deutlich breiteren Basis festgesetzt, als dies in der Euro-Zone und in Deutschland der Fall war.

Die hohen US-Kerninflationsraten belegen, dass dort die Preissteigerungen schon erheblich früher als in der Euro-Zone in der Breite der Volkswirtschaft angekommen waren und sich schon sehr früh nicht mehr nur auf einige wenige Waren- und Dienstleistungsgruppen beschränkten.

Diese ganz unterschiedliche Dynamik sowie der in den USA eher einsetzende Inflationsschub waren letztlich ausschlaggebend für die frühere und stärkere geldpolitische Reaktion der US-Notenbank Fed. Was zudem viele gerne vergessen: Auch die US-Notenbank stand anfangs heftig in der Kritik.

Der Vorwurf: Sie habe zu spät und dann zu halbherzig reagiert, um die aus dem Ruder laufende Inflation in den Griff zu kriegen.

 

 

Genau betrachtet: Fed sogar zögerlicher als die EZB

Beim genaueren Hinsehen zeigt sich also: Die Fed hat nicht schneller und beherzter reagiert, weil sie die Situation besser (als die EZB) eingeschätzt oder unter Kontrolle hatte, sondern schlicht und einfach, weil die Inflation in den USA schon deutlich früher und dynamischer Fahrt aufgenommen hat, als dies in Europa der Fall war.

Die zunächst abwartende Haltung der EZB war insofern durchaus gerechtfertigt, auch wenn sie sich im Nachhinein als falsch erwiesen hat. Aber nachher ist man bekanntlich ja immer schlauer.

Berücksichtigt man die unterschiedlichen Inflationsdynamiken in den USA und der Euro-Zone, dann agierte die Fed sogar zögerlicher als die EZB: Die Fed erhöhte am 16. März 2022 erstmals ihren Leitzins: um 0,25 Prozentpunkte auf die Spanne von 0,25 bis 0,50%.

Zu diesem Zeitpunkt lag die Kernrate der Inflation bereits seit 11 Monaten, also fast seit einem Jahr, über der Marke von 2%. Die zum Zeitpunkt der seinerzeitigen Fed-Entscheidung letztverfügbare Kernrate für Februar 2022 lag bei 6,4%.

Die EZB dagegen erhöhte den Leitzins erstmals im Juli 2022, also 4 Monate später als die US-Zentralbank, allerdings gleich um 0,5 Prozentpunkte auf 0,50%. Die Kernrate der Inflation in Deutschland lag zu diesem Zeitpunkt mit 3,2% nur halb so hoch wie in den USA zum Zeitpunkt der dortigen Leitzinsanhebung.

Wenn also eine Notenbank geschlafen hat, dann wohl eher die Fed.

 

 

Fazit

Der Europäischen Zentralbank kann man sicherlich den einen oder anderen Fehler bzw. Fehleinschätzungen in Sachen Inflationserwartungen und -bekämpfung vorwerfen. Aber das pauschale Urteil des Komplettversagens gerade mit Blick auf die vermeintlich beherzte Vorgehensweise der US-Notenbank schießt dann doch deutlich über das Ziel hinaus.

In den USA setzte der spürbare Anstieg der Teuerungsraten eher und dynamischer als in der Euro-Zone ein. Dies erforderte auch ein schnelleres Eingreifen der Fed im Vergleich zur EZB. Doch gerade die Fed zeigte sich hierbei anfangs zögerlich, was ihr viel Kritik eintrug.

Dass die Europäische Zentralbank die Inflationsentwicklung nicht auf die leichte Schulter nimmt, hat sie durch ihre zuletzt kräftigen Leitzinserhöhungen unter Beweis gestellt.

So unerfreulich die in diesem Jahr stark gestiegenen Preise für uns Verbraucherinnen und Verbraucher auch sein mögen, so beruhigend ist es zu wissen, dass die EZB durchaus gewillt ist, ernsthaft dagegen vorzugehen.

Sehr geehrte Leserin, sehr geehrter Leser, wir sind uns völlig darüber im Klaren, dass sich das vorliegende Logbuch für den einen oder die andere vielleicht so liest, als sei es von der Europäischen Zentralbank zu deren Ehrenrettung bestellt worden. Wir möchten Ihnen aber versichern, dass dies nicht der Fall ist.

Letztlich geht es uns nicht um eine Ehrenrettung, von wem auch immer. Stattdessen wollen wir mit diesem Logbuch unterstreichen, dass es bei allen Einschätzungen und Bewertungen letztlich immer auf die genaue Faktenlage ankommt.

Dies umso mehr in Zeiten, in denen unreflektierten und bloßen Meinungen manchmal dieselbe Relevanz zugesprochen wird wie fundierten und sorgfältigen Analysen.

Die strikte und faire Orientierung an objektiven Tatsachen ist vor allem im Zusammenhang mit einer Zentralbank von entscheidender Bedeutung, denn das Vertrauen der Öffentlichkeit eines Landes oder einer Region in seine Notenbank ist ein wertvolles Gut.

Dieses Vertrauen sollte aber nicht durch Urteile aufs Spiel gesetzt werden, die aufgrund einer ungenauen Faktenlage gefällt werden.

 

Autor: Prof. Dr. Stefan May, Leiter Anlagestrategie und Produktentwicklung der Quirin Privatbank

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