Was sind die bestimmenden Themen für Anleger in 2022

Quirin Privatbank: 2021 geht zu Ende – es war ein ereignisreiches Jahr, in vielerlei Hinsicht. Was waren die wichtigsten Themen, was hat die Leserinnen und Leser von Mays Logbuch am meisten bewegt und was sind die bestimmenden Themen für Anleger in 2022? Erfahren Sie es jetzt im Interview mit Prof. Dr. Stefan May, dem Leiter Anlagemanagement der Quirin Privatbank.

Janine Pentzold (Unternehmenskommunikation): Ich freue mich sehr, heute einen besonderen Gast hier zu haben: Professor Dr. Stefan May, Leiter Anlagemanagement der Quirin Privatbank. Gemeinsam wollen wir heute schauen, welche Themen die Leserinnen und Leser im Logbuch im vergangenen Jahr am stärksten bewegt haben und was generell im Jahr so los war.

Und wir wagen natürlich auch einen Ausblick auf das kommende Jahr 2022. Stefan, schön, dass du da bist. Lass uns doch direkt loslegen. 2021 neigt sich dem Ende zu. Wenn du eine Schulnote dafür vergeben müsstest, welche wäre das?

 

Prof. Dr. Stefan May (Leiter Anlagemanagement): Oh, das ist gar nicht so einfach. Ich müsste mindestens zwei Noten vergeben, nämlich eine für die Wirtschaft und die Märkte und die andere Note für die Politik.

Was die Wirtschaft und die Märkte anbelangt, würde ich zu einer Eins oder Zwei tendieren. Was die Politik anbelangt, leider zu einer Vier.

Warum? Wenn wir uns die Märkte angucken, so haben wir in diesem Jahr beispielsweise im deutschen Aktienindex einen Zuwachs von 20 Prozent gesehen. Und die Wirtschaft insgesamt hat sich erstaunlich gut aus der Krise herausgearbeitet.

Der einzige Schatten oder Wermutstropfen, könnte man sagen, liegt tatsächlich in der Politik. Niemand hätte sich vorstellen können, dass die Politik dermaßen unvorbereitet in das zweite Corona-Jahr stolpert und dermaßen große handwerkliche Fehler macht. Darum eben leider die Vier.

 

JP: Zum Glück haben wir ja gerade jetzt einen Regierungswechsel und damit dann hoffentlich eine bessere Politik am Start. Stefan, wir als Bank arbeiten ja prognosefrei, was die Portfolios der Kunden betrifft. Hast du denn trotzdem gewisse Erwartungen an das Jahr gehabt. Und wenn ja, haben die sich erfüllt?

 

SM: Janine, das ist ein sehr guter Punkt, denn es führt bei Kunden immer wieder mal zu Missverständnissen. Wir arbeiten prognosefrei, das heißt für uns, dass wir das Vermögen unserer Kunden nicht dem Risiko irgendwelcher Fehlprognosen aussetzen wollen.

Das heißt aber nicht, dass wir zu den Märkten, zu den Volkswirtschaften, zur wirtschaftlichen Entwicklung ganz allgemein keine Meinung haben. Denn das wäre ja lächerlich, wenn wir als Analysten und Portfoliomanager und Vermögensverwalter keine Meinungen zu den Märkten hätten.

Also, wir haben solche Meinungen. Und nun zu deiner konkreten Frage, da muss ich sagen: Ja und nein, manche Erwartungen haben sich erfüllt, manche nicht. Ich habe schon damit gerechnet, dass sich die Wirtschaft aus der Krise herausarbeiten wird – dass sie sich weiter herausarbeiten wird, als sie es schon 2020 begonnen hat.

Aber ich habe nicht gedacht, dass es so fulminant passiert. Die Wirtschaft hat sich wirklich erstaunlich schnell auf ihr altes Niveau heraufgearbeitet. Das andere war die Politik: Ich hätte mir wirklich nicht vorstellen können, dass die Politik so unvorbereitet in das zweite Krisenjahr stolpert und auch so wenig gelernt hat aus dem ersten Jahr.

Ich hätte mir zum Beispiel gedacht, dass spätestens nach neun Monaten Deutschland in Planquadrate eingeteilt wird, in denen statistisch sauber getestet wird. Aber wir haben immer noch keine validen Zahlen. Wir wissen immer noch nicht genau, wo eigentlich die Infektionstreiber liegen.

Das sind echte Defizite in der Politik, die auch nichts damit zu tun haben, dass man hinterher immer schlauer ist. Sondern es sind Dinge, die man auch im Vorhinein hätte wissen müssen und wissen können.

 

JP: Was waren denn aus deiner Sicht die Anlegerthemen in 2021? Welche waren da wichtig neben Corona und den Missständen, die du gerade angesprochen hast?

 

SM: Rein ökonomisch gesehen war und ist eines der Hauptthemen die Inflation. Das ist zurzeit das große Thema am Markt: Sehen wir jetzt die Inflationswende, ja oder nein?

Da gibt es ja zwei Lager. Eines sagt, jetzt gehen eben weltweit die Inflationsraten wieder nach oben. Das andere Lager sagt: Nein, das sind vorübergehende Effekte und wir werden uns wieder auf normalen Inflations-Leveln einpendeln.

Stand heute würde ich zum zweiten Lager tendieren. Ich bin hier auf Linie der EZB, die sagt, wir haben hauptsächlich vorübergehende Phänomene. Das ist aber ein Aspekt, der scharf beobachtet werden muss. Das kann sich auch sehr schnell ändern. Wir haben deshalb einen scharfen Blick auf die Zahlen.

Und das zweite Thema ist die Corona-Variante Omikron: Wie geht es da weiter? Das ist natürlich noch viel schwerer einzuschätzen, als es das für die Inflation der Fall ist.

 

JP: Das wird uns im neuen Jahr sicher auch noch ein Stück weit begleiten.

 

SM: Definitiv.

 

 

JP: Inflation war ein Thema, das auch im Logbuch recht oft behandelt wurde im letzten Jahr. Wir schauen uns jetzt mal an, was denn die beliebtesten Themen waren. Ganz oben stand da zum Beispiel: „Vorsicht, gefährlicher Herdentrieb!“ Was hat es denn damit auf sich, Stefan? Kannst du das kurz erklären?

 

SM: Das finde ich interessant, dass das eines der beliebtesten, wenn nicht sogar das beliebteste Thema war. Die Antwort ist ein bisschen schwierig, denn beim Thema Herdentrieb steckt eine neue Kennzahl dahinter, die wir entwickelt haben und mit der wir den Anlegern deutlich machen wollen, dass es einen Unterschied gibt zwischen dem, was man das Risiko einer Anlage nennen kann, und dem, womit wir dieses Risiko messen. Das wird immer durcheinandergebracht.

Es gibt eine Kennzahl, die allgemein in der Branche anerkannt wird: die Risikokennzahl, die sich Volatilität nennt. Statistisch ist es die sogenannte Standardabweichung. Aber das darf man nicht mit dem Risiko an sich verwechseln. Es ist eine Möglichkeit – eine unvollständige Möglichkeit, die Risiken zu messen.

Bei dieser Messung fällt aber ein Aspekt häufig unter den Tisch. Das ist das, was wir das Herdenrisiko nennen. Und das ist das spezielle Rückschlags-Risiko, das sich ergibt, wenn Märkte über einen längeren Zeitraum hinweg steigen, denn dann neigen die Anleger zum Herdenverhalten und die Rückschlags-Gefahren sind sehr groß.

Was das Interessante ist: Durch die normale Kennzahl Volatilität wird dieses Risiko nicht ausgewiesen. Und es wird nicht nur nicht ausgewiesen, sondern es wird sogar untertrieben, denn wir haben das Phänomen, dass mit steigenden Kursen die Volatilitäten kleiner werden, vor allem wenn sie kurzfristig gemessen werden.

Und dieses Defizit der üblichen Risikomessung wollen wir mit dieser Kennzahl Herdenrisiko gewissermaßen ausgleichen. Dazu haben wir eben einen Beitrag geschrieben, und es überrascht mich nach wie vor, dass das einer der beliebtesten Beiträge war.

 

JP: Der kam offensichtlich am besten an. Ein weiteres sehr beliebtes Thema war: „Suchen Sie nicht die Nadel im Heuhaufen, sondern nehmen Sie den ganzen Heuhaufen!“ Stefan, was hat das Sprichwort vom Heuhaufen denn mit meiner Geldanlage zu tun?

 

SM: Dahinter steckt eine US-Studie, die für den sehr breiten amerikanischen Aktienmarkt gemacht wurde über einen sehr langen Zeitraum hinweg. Und das Ergebnis dieser Studie hat für einige Aufregung gesorgt in der Branche, nämlich dass die Gesamtperformance des amerikanischen Aktienmarktes auf relativ wenige Einzelwerte zurückgeführt werden kann. Das heißt, wenn man diese Werte herausnimmt, ist die Wertentwicklung völlig lausig.

Das muss man sich so vorstellen: Wir haben als Beispiel eine Performance von neun Prozent per annum und das konzentriert sich vielleicht auf zehn Werte. Und wenn man die zehn Werte herausnimmt, dann schmelzen die neun Prozent auf ein oder zwei Prozent.

Wie gesagt hat dieses Ergebnis viele überrascht, es ist aber eigentlich ein in der Branche bekanntes Ergebnis. Es ist nicht so sensationell und ist auch für andere Märkte gezeigt worden. Und es ist auch verallgemeinert worden auf Zeiträume.

Man kann auch zeigen, dass die gute Durchschnittsperformance, sagen wir mal über fünfzehn Jahre hinweg, sich in einigen relativ wenigen Zeitfenstern konstruiert, so dass wir, wenn man beides zusammennimmt, als Ergebnis haben: Die gute Marktperformance konzentriert sich auf einige wenige Werte in relativ wenigen Zeitfenstern.

 

JP: Und da haben dann die Kunden geschrieben: Wenn ich eigentlich nur diese zehn Werte brauche, Professor May, packen Sie die doch in mein Depot.

 

SM: Genau da ist das Problem, dass daraus die falschen Schlüsse gezogen werden. Dass die Kunden, überspitzt formuliert, gelaufen kommen und sagen: Wir müssen genau diese Werte finden. Und wir müssen in genau diese Werte in genau den entsprechenden Zeitfenstern investieren.

Was bedeutet: Wir müssen, um es im Jargon auszudrücken, sogenanntes Stockpicking und Markettiming betreiben. Aber es gibt nun viel, viel signifikantere und einflussreichere Studien, die gezeigt haben, dass genau das nicht funktioniert.

Das heißt, wenn man das betreibt, dann geht man das extrem große Risiko ein, dass man eben die Werte nicht findet, die Zeiträume nicht findet und dann die Performance ganz, ganz lausig ist. Und das ist genau das, was wir auch regelmäßig in den Kundendepots beobachten.

Das heißt, für uns ist die Conclusio eine völlig andere, nämlich die: Wenn wir die gute Marktperformance mitnehmen wollen, müssen wir alle Werte haben und wir müssen in allen Zeiträumen investiert sein, weil wir eben nicht die Möglichkeit haben, die jeweiligen Performancetreiber und sogenannten Hausse-Phasen, sprich die entsprechenden Zeitfenster, zu finden.

 

JP: Das heißt eben doch den ganzen Heuhaufen mitnehmen?

 

SM: Da führt kein Weg vorbei.

 

 

JP: Stefan, hattest du auch ein persönliches Lieblingsthema? Ein Thema, das dir besonders in Erinnerung geblieben ist?

 

SM: In der jeweiligen Situation ist jedes Thema, das gerade aktuell ist, total spannend. Aber wenn ich mich wirklich für eines entscheiden müsste, würde ich sagen: das sogenannte Krypto-Thema.

Ich habe ja einen Logbuch-Beitrag geschrieben, in dem ich versucht habe, ein bisschen die Hintergründe des sogenannten Verifizierungsmechanismus in der Blockchain und der dahinterstehenden Kryptowährung zu erklären. Das Thema war für die Kunden offensichtlich sehr spannend, was uns alle überrascht hat.

Uns war schon klar, dass das Thema alle interessiert – Krytowährungen sind derzeit eine ganz heiße Kiste, könnte man sagen –, aber der Artikel ist dann doch sehr, sehr lang geworden, da haben wir die Befürchtung gehabt, den liest kein Mensch und es war sozusagen vergebliche Liebesmühe. Das war es aber offensichtlich nicht, wir haben viele positive Zuschriften bekommen auf diesen Artikel hin.

Von echten Spezialisten wurden wir auch kritisiert, die sagten, wir hätten da zu stark vereinfacht. Aber das ist natürlich immer die Gratwanderung, die man gehen muss, wenn man verständlich bleiben will und trotzdem noch einigermaßen korrekt. Alles in allem sind Kryptowährungen nach wie vor ein spannendes Thema.

Auch hier gibt es ja zwei Lager. Die einen sagen, das ist alles heiße Luft, das wird sich alles ähnlich der sogenannten Tulpenmanie im 17. Jahrhundert in Luft auflösen. Und die anderen sagen, das ist die Technologie der Zukunft und jede Investition in Kryptowährungen ist ein Muss.

Ich muss ehrlich sagen, ich bin da noch etwas zwiegespalten. Ich glaube tatsächlich, dass es mehr ist als eine reine Hysterie, insofern ist der Vergleich mit der Tulpenmanie im 17. Jahrhundert nicht ganz korrekt, weil es ja einen realen Gehalt hat. Es gibt diese Blockchain-Technologie, die wirklich eine gewisse Sprengkraft in sich trägt.

Auf der anderen Seite müssen wir aber auch beobachten, dass nach meiner Überzeugung die meisten Anleger in Kryptowährungen zumindest derzeit gar nicht wissen, was sie da eigentlich tun, und aus einem einzigen Grund anlegen: weil die Kurse gestiegen sind. Und das ist wieder die Ähnlichkeit mit dieser Tulpenmanie des 17. Jahrhunderts.

Wir sind da wie gesagt etwas zwiegespalten, wir sind da noch in der Findungsphase, aber es ist ein spannendes Thema, über das wir die Kunden auch ein bisschen informieren wollten.

 

JP: Ein Grundsatz in der Geldanlage ist ja, immer nur in das zu investieren, was man versteht. Das ist, wie du gerade gesagt hast, hier dann wahrscheinlich öfter nicht hundertprozentig gegeben.

 

SM: Es ist auch legitim, wenn die Leute sagen: Mit einem gewissen Prozentsatz meines Vermögens, der nicht zu groß sein soll, will ich an einer solchen Hausse teilnehmen. Auch wenn ich es nicht ganz verstehe, will ich da dabei sein. Das kann ich schon irgendwie nachvollziehen.

Ich würde es auch nicht ganz verdammen. Ich würde nur dringend davon abraten, zu große Teile des Vermögens da zu investieren, also tatsächlich nur das sogenannte „Spielgeld“, bei dem man notfalls auch den Totalverlust verschmerzen könnte, womit man natürlich rechnen muss bei Kryptowährungen.

 

JP: Neben Kryptowährungen spricht im Moment die ganze Welt von NFTs. Was ist das denn, Stefan?

 

SM: NFT ist ein sogenanntes Akronym, also ein Kürzel, das für „Non-Fungible Token“ steht. Lass mich vielleicht mit „Token“ beginnen: Das ist eine Bezeichnung für eine Repräsentanz, in der Regel ein Abbild eines Vermögenswertes, in der sogenannten Blockchain.

Die Blockchain ist ja die Basis aller Kryptowährungen. Das ist etwas, was wir beispielsweise auch in unserem Hause haben. Wir bieten in 500-Euro-Stückelungen ja sogenannte Tokens an. Und diese Tokens gewährleisten einen Anteil an einem Immobilienportfolio. Wir sind also auch schon beim Tokenisieren dabei gewissermaßen.

Was wir nicht haben, zumindest Stand heute noch nicht, sind diese Non-Fungible Tokens. „Non-Fungible“ heißt „nicht ersetzbar“. Das bedeutet, die Vermögensgegenstände sind nicht austauschbar, sondern sind wie beispielsweise Kunstwerke tatsächlich einzigartig und nicht beliebig ersetzbar.

Das ist derzeit ein großer Trend in diesem Bereich, Kunstwerke zu tokenisieren. Und in dem Zusammenhang spricht man dann eben von den NFTs, diesen Non-Fungible Tokens.

 

JP: Diese neuen digitalen Anlageklassen wie Kryptowährungen und NFTs sind für viele Anleger schwer greifbar. Das ist noch relativ viel Neuland. Genauso schwer vorstellbar ist manchmal, dass die Märkte sich immer weiter nach oben entwickeln. Ist das denn überhaupt möglich? Und ist das gesund?

 

SM: Ja, das ist ein guter Punkt, den du da ansprichst, der auch für unser Anlagekonzept sehr wichtig ist, weil wir im Grunde ja die Kunden davon überzeugen wollen, dass sie mit unserer Marktstrategie am Wachstum der Weltwirtschaft partizipieren, und insofern ist es natürlich berechtigt, wenn die Leute sich fragen, ob das begrenzt sein muss irgendwann einmal.

Ich würde sagen: Wenn man Wachstum rein quantitativ sieht, dann kann es natürlich nicht ewig so weitergehen, denn die Ressourcen der Erde sind begrenzt. Aber es gibt noch einen anderen Aspekt des Wachstums – das qualitative Wachstum. Und mit qualitativem Wachstum ist eben eine Steigerung der Qualität der Waren verbunden.

Entscheidend ist, dass die Menschen bereit sein müssen, dafür mehr zu bezahlen, und das wird sich dann auch in einer höheren Wirtschaftsleistung niederschlagen und damit auch in einem höheren Wachstum, auch wenn unter Umständen der rein quantitative Umfang nicht zunimmt.

 

JP: Hast du dafür ein Beispiel, Stefan?

 

SM: Als Beispiel fällt mir hier ein Thema ein, das mir auch persönlich am nächsten liegt, und das ist das Tierwohl. Wir haben ja noch immer eine Situation, in der teilweise Fleisch- und Wurstwaren skandalös billig sind. Teilweise kostet ein Kilo Fleisch in den Supermärkten weniger als ein Kilo Kartoffeln. Da wird völlig vergessen, dass jede Fleisch- und jede Wurstware, die man verzehrt, letztlich mal ein Lebewesen war.

Was ich sagen will mit dem Beispiel: Wenn wir jetzt alle oder die Mehrzahl der Menschen bereit wären, beispielsweise für Fleisch und Wurst das Dreifache zu bezahlen, dann wäre das qualitatives Wachstum, obwohl der quantitative Umfang unter Umständen vielleicht gar nicht zunimmt.

insofern ist qualitatives Wachstum möglich, wenn die Leute bereit sind, für die entsprechenden Waren auch mehr zu bezahlen, dann drückt sich das auch in einem Wachstum des Bruttoinlandsprodukts aus, denn das Bruttoinlandsprodukt wird immer wertmäßig ermittelt.

Man sagt zwar „real“ – das bedeutet einfach, dass es inflationsbereinigt ermittelt wird –, aber es wird wertmäßig ermittelt. Und wenn Dinge einen höheren Wert haben, wenn den Waren und Dienstleistungen ein höherer Wert zugemessen wird, dann führt das auch zu einem steigenden Bruttoinlandsprodukt.

Insofern kann rein quantitatives Wachstum nicht ewig so weitergehen, qualitatives Wachstum sehr wohl. Qualitatives Wachstum ist meiner Meinung nach unbegrenzt.

vor dem Hintergrund ist mir auch noch ein weiterer Aspekt wichtig: dass ich persönlich auch der Überzeugung bin, dass ökonomisches Wachstum, vor allen Dingen qualitatives ökonomisches Wachstum – da haben wir ja aktuell immer noch eine Mischung aus quantitativem und qualitativem Wachstum –, dass der qualitative Aspekt des Wachstums letztlich nichts anderes ist als ein Ausdruck der menschlichen Natur, nämlich des Wunsches nach Veränderung.

Die Menschen wollen Veränderung, denn ohne Veränderung hat das Leben gewissermaßen keine Würze. Und vor dem Hintergrund ist Wachstum qualitativ verstanden etwas ganz Vernünftiges und den Menschen auch Angemessenes.

 

JP: Wachstum ist ein wichtiges Thema. Wie sieht es denn aus mit dem Wachstum deiner Leserschaft, Stefan? Kriegst du viel Feedback von unseren Leserinnen und Lesern auf dein Logbuch?

 

SM: Ja, ich muss sagen, erstaunlich viel. Wir haben ehrlich gesagt nicht mit so viel Zuschriften und Reaktionen gerechnet. Und vor allen Dingen sind die Rückmeldungen teilweise sensationell klug und differenziert.

Die Leute machen sich hier wirklich sehr viel Mühe, auf jeden einzelnen Aspekt einzugehen, der hier besprochen wird, und man merkt, es treibt die Leute auch um. Von daher glauben wir, dass wir den Nerv tatsächlich getroffen haben mit diesem Logbuch.

 

JP: Toll, das ist natürlich auch ein schöner Ansporn für die nächsten Ausgaben des Logbuchs und für das kommende Jahr.

 

SM: Eindeutig, denn ich muss ehrlich sagen, es macht schon sehr viel Arbeit, und wenn wir da jetzt keinerlei Reaktionen hervorgerufen hätten, würden wir irgendwann auch die Lust verlieren, das zu machen. Aber dafür gibt es überhaupt keinen Grund. Es ist tatsächlich sehr erfreulich.

Wir werden natürlich auch kritisiert, damit das nicht falsch verstanden wird. Nicht alle sind immer mit allem einverstanden. Das wäre auch ein Wunder. Aber wir versuchen wirklich, jede Zuschrift individuell zu beantworten. Da gibt es keine Standardantworttexte.

 

JP: Stefan, lass uns doch nach dem Blick in den Rückspiegel jetzt auch mal nach vorne schauen. Was sind wichtige Themen im Jahr 2022? Wie lange begleitet uns zum Beispiel das Thema Minuszins denn noch?

 

SM: Minuszins ist natürlich ein Thema, das viele Anleger umtreibt. Es bewegt vor allem Anleger, die wir noch nicht davon überzeugen konnten, am Aktienmarkt oder allgemeiner gesagt an den Finanzmärkten zu investieren, sondern die sich immer noch sozusagen am Festgeld festkrallen, um es mal so auszudrücken. Die sind natürlich stark gebeutelt durch die Minuszinsen.

Die Frage, wie lange Minuszinsen uns erhalten bleiben, hängt extrem davon ab, wie das mit der Inflation weitergeht. Stand heute gehen wir schon davon aus, auch vor dem Hintergrund der Wachstumszahlen, die wir sehen, dass die Inflationsraten wieder zurückkommen werden.

Wir werden nicht die vier oder fünf Prozent beibehalten, die wir in den letzten Monaten gesehen haben, sondern wir werden wieder zurückkommen.

Dass wir so weit zurückkommen auf die Vorkrisenlevel, das glaube ich nicht, sondern wir werden uns schätzungsweise um die zwei Prozent wieder einpendeln. Das ist die Einschätzung Stand heute vor dem Hintergrund der aktuellen Datenlage.

Bei dieser Datenlage berücksichtigen wir zum Beispiel auch die sogenannten Inflationserwartungen, wie sie sich in den Finanzmarktpreisen reflektieren. Das kann sich aber von Woche zu Woche ändern. Das heißt, wir beobachten hier die Situation sehr genau, um gegebenenfalls auch umzusteuern.

Aber, das vielleicht noch als Hinweis, auf unsere Anlagestrategie selber wird es keinen nennenswerten Einfluss haben, weil wir ja eben prognosefrei unterwegs sind.

 

JP: Das heißt, aus Anlegersicht geht es ohne Aktien auch im kommenden Jahr nicht?

 

SM: Ohne Aktien geht es auch im kommenden Jahr nicht. Für ein solches Szenario, in dem ich mir auskömmliche Festgeldzinsen vorstellen könnte, dafür fehlt mir die Phantasie.

 

JP: Stefan, jetzt hatten wir gerade einen Regierungswechsel. Was erwartest du dir von unserer neuen Regierung?

 

SM: Na ja, nach sechzehn Jahren Merkel ist es, glaube ich, schon Zeit für einen frischen Schwung. Manche sprechen ja auch vom Mehltau der Ära Merkel. So weit würde ich jetzt nicht gehen, aber ich glaube, nach sechzehn Jahren Kanzlerschaft ist es mal Zeit, dass eine neue Mannschaft rankommt. und die macht ja ihren Job derzeit so schlecht nicht, ist mein Eindruck.

Ich bin persönlich auch sehr angetan von der Unaufgeregtheit, die Herr Scholz an den Tag legt. Also, alles in allem erwarte ich mir von der Regierung einfach frischen Wind in vielerlei Hinsicht, habe aber auch einen speziellen Wunsch, und der betrifft unseren Finanzminister Christian Lindner. Ich hoffe inständig, dass er nicht weich wird und nicht die deutsche Stabilitätsbremse opfert.

Und es ist meine Hoffnung, dass auch der europäische Stabilitäts- und Wachstumspakt, der ja zumindest eine gewisse Disziplin erfordert, was Staatsverschuldung anbelangt, nicht geopfert wird. Da möchte ich auch nicht falsch verstanden werden.

Natürlich ist es richtig, in der Krise auch gegenzusteuern und Geld in die Hand zu nehmen, aber man sollte nicht das grundsätzliche Ziel eines ausgeglichenen Haushalts dadurch aus dem Blick verlieren.

 

JP: Und, Stefan, ganz quirinuntypisch: Wo siehst du denn den DAX Ende 2022? Du hattest in einem Logbuch Anfang des Jahres ja mal von 25.000 Punkten im Jahr 2035 gesprochen. Bleibst du dabei?

 

SM: 25.000 Punkte im Jahr 2035? Also, Anfang dieses Jahres stand der DAX bei ungefähr 13.000 Indexpunkten. Und das heißt, Anfang des Jahres waren es bis 2035 noch 15 Jahre. Kaum zu glauben, dass ich diese Prognose abgegeben habe! Und zwar aus einem einfachen Grund: Da muss ich einen schlechten Tag gehabt haben, denn das ist eine ganz bescheidene Prognose.

Wenn man das nämlich mal überschlagsmäßig in Jahresrenditen umrechnet, dann kommt man hier auf etwa viereinhalb Prozent. Also ein Sprung von 13.000 auf 35.000 in 15 Jahren bedeutet per annum ungefähr viereinhalb Prozent.

Und jetzt zu deiner Frage, ob ich dabei bleibe: Jetzt stehen wir bei 16.000. Wenn ich wieder auf 35.000 springe, jetzt in 14 Jahren, dann ist das eine Rendite per annum von gut drei Prozent. Also eine ganz bescheidene Prognose.

Wir gehen eigentlich von sieben Prozent per annum als zu erwartende Rendite aus. Wenn man das mal umrechnet, dann würde Stand heute das bedeuten: über 40.000 Indexpunkte im Jahr 2035.

Das kann sich keiner vorstellen, aber ich kann mich auch noch an Publikationen erinnern, in denen die Frage gestellt wurde: Schafft der Dow Jones jemals die 3000?

Also, dass wir eine mangelnde Phantasie haben, sollte uns nicht davon abhalten, auch mal die ungewöhnlichen Dinge anzunehmen.

 

 

JP: Und welche Entwicklung der Weltmärkte hältst du grundsätzlich für realistisch im kommenden Jahr – aufwärts, abwärts, seitwärts?

 

SM: Das ist natürlich schwierig. Es hängt letztlich alles davon ab, wie es mit Corona weitergeht. Tauchen noch irgendwelche Varianten auf? Sind die gefährlich, ja oder nein? Das ist wirklich extrem schwer zu sagen.

Ich persönlich bin aber auch ein Optimist und glaube, dass zurzeit die Pessimisten eine ganz, ganz starke Dominanz haben. Und ich bin jetzt ein bisschen zuversichtlich und glaube eigentlich der Gruppe der Epidemiologen, die sagen, es gibt wohl deutliche Hinweise darauf, dass solche Pandemien sich nach ungefähr drei Jahren totlaufen. Und das könnte bedeuten, dass wir im kommenden Jahr tatsächlich ein Ende der Coronakrise sehen werden.

Davon gehe ich jetzt mal als Optimist aus. Und das würde natürlich auch für die Wirtschaft einen enormen Aufschwung bedeuten, wenn das tatsächlich passieren sollte. Meine Überzeugung ist es.

 

JP: Dann hoffen wir mal, dass diese Prognose dann auch so eintreten wird. Stefan, wir wollen noch ein kleines Stückchen persönlicher werden: Du bist Professer und du bist Leiter Anlagemanagement, das heißt, du hast zwei Rollen, zwei Aufgaben. Was macht dir denn da jeweils am meisten Spaß?

 

SM: Ich muss eine kleine Korrektur anbringen. Ich bin seit diesem Jahr Professor emeritus, das heißt, ich bin nach wie vor Professor an unserer Hochschule, habe aber keine Lehrverpflichtung mehr. Und das heißt, dass ich noch mehr Gehirnschmalz, um es mal so auszudrücken, der Bank widmen kann, was ich ja vorhabe, denn die Tätigkeit für die Quirin Privatbank macht mir extrem Spaß. Ich arbeite sehr gern strategisch, sehr gern auch im konzeptionellen Bereich, was die Entwicklung der Gesamtbankstrategie anbelangt, aber auch speziell was die Weiterentwicklung von Anlagestrategien, den Entwurf von Anlagestrategien anbelangt.

Wenn ich das letzte und teilweise auch das vorletzte Jahr anführen darf: Wir haben beispielsweise unsere Marktstrategie, die ja die Wirbelsäule unseres gesamten Anlagekonzeptes ist, auf eine methodisch völlig neue Basis gestellt. Wir haben eine neue Kennzahl entwickelt, die bereits erwähnte Kennzahl zum Herdenrisiko.

Wir sind dabei, uns über Benchmarks noch mal gründlicher Gedanken zu machen. Das sind alles Aspekte des Anlagemanagements, die ich unter der Rubrik Handwerk subsumieren würde.

Also nicht irgendwelche Prognosen: Wo gehen die Märkte hin? Sondern: Wie können wir unser tägliches Tun im Anlagemanagement verbessern? Und wie können wir es auch besser kommunizieren?

Das ist ein Aspekt, der mir sehr, sehr viel Spaß macht: anspruchsvolle Konzeptionen, die ja unser Anlagekonzept bedeutet, auch Kunden zu vermitteln und verständlich zu machen.

 

JP: Als Leiter Anlagemanagement bist du auch auf vielen Veranstaltungen für die Quirin Privatbank unterwegs. Auf unserem Nachhaltigkeitsforum hast du neulich gesagt, dass auch der Anlageschuster meist die schlechtesten Sohlen hat. Ist das dein Vorsatz für 2022, dich da noch mal anders aufzustellen? Oder wie darf man das verstehen?

 

SM: Du sprichst jetzt das Anlageforum an vor ungefähr einer Woche. Da ging es um Nachhaltigkeit, da ging es um unsere Vermögensverwaltung Verantwortung, in der wir ja die Marktstrategie in eine nachhaltige Form gegossen haben. Da wurde ich kalt erwischt – denn ich bin ja grundsätzlich ein ehrlicher Mensch.

Ich wurde gefragt, ob denn mein eigenes Depot bereits auf Nachhaltigkeit umgestellt ist, und ich musste zugeben: Nein, es ist noch nicht umgestellt. Die einzige Entschuldigung, die ich da hatte, war eben die, dass entsprechend dem alten Grundsatz, dass der Schuster selber die schlechten Schuhe trägt und der Schneider den schlecht sitzenden Anzug, eben auch der Leiter Anlagemanagement immer noch nicht auf Nachhaltigkeit umgestellt ist.

Aber nicht aus Mangel an Überzeugung, sondern einfach, weil ich noch nicht dazugekommen bin. Und es ist tatsächlich mein Vorsatz fürs nächste Jahr.

 

JP: Jetzt steht ja Weihnachten kurz vor der Tür, Stefan. Gibt es denn im Hause May eine besondere Weihnachtstradition?

 

SM: Ehrlich gesagt, eine Tradition, die in irgendeiner Weise ungewöhnlich wäre, gibt es nicht. Wir stellen einen Weihnachtsbaum auf, ja, das ist immer ein Riesenzirkus vorher, weil der natürlich nie richtig stehen kann. Aber ansonsten gibt es da eigentlich keine Besonderheiten, keine Auffälligkeiten zu vermelden.

 

JP: Feiert ihr daheim oder verreist ihr? Wie handhabt ihr das an den Feiertagen?

 

SM: Das ist dann tatsächlich vielleicht eine Tradition, dass wir da immer zu Hause bleiben. Wir haben ja zwei erwachsene Kinder, die in aller Herren Länder verstreut sind, und die wollen auch gerne zu uns kommen, und zwar ohne dass wir da moralischen Druck ausüben müssen: So, jetzt besucht mal wieder eure alten Eltern!

Wir hatten sogar einmal, ich glaube, es war im letzten Jahr, vor zu verreisen, aber da gab es allgemeines Protestgeheule unter den erwachsenen Kindern: Kommt nicht in Frage, wir wollen da heimkommen. Vor dem Hintergrund: Ja, wir feiern zu Hause, eventuell auch mit den Eltern meiner Frau – meine eigenen Eltern sind leider schon verschieden –, also sozusagen im vergrößerten Familienkreis.

 

JP: Das ist doch auch ein schönes Kompliment, wenn die Kinder gern nach Hause kommen zu Weihnachten.

 

SM: Ja, ich muss sagen, da freue ich mich auch wirklich drüber. Es ist schön, wenn die Kinder klein sind – aber es ist auch schön, erwachsene Kinder zu Freunden zu haben, um es mal so auszudrücken.

 

JP: Stefan, zu guter Letzt: Hast du persönlich noch einen Wunsch für 2022?

 

SM: Was ich mir in erster Linie wünsche, ist Gesundheit – ich glaube nach wie vor, dass das das Allerwichtigste ist im Leben –, und zwar für mich und meine Familie, aber natürlich auch für alle anderen.

 

JP: Stefan, vielen Dank für deine Einblicke und deine Antworten und Ihnen, liebe Zuschauerinnen und Zuschauer, vielen Dank fürs Zuschauen und Ihr Interesse und eine schöne Weihnachtszeit Ihnen.

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